Die 10. Symphonie
den Veterinär, der sich um die Gesundheit dieser fabelhaften Schaupferde kümmerte, denn dieser Mann war ein ausgemachter Musikliebhaber und mehr als einmal bei seinen Konzerten gewesen. Er würde ihm eine geeignete Person oder Einrichtung nennen können, bei der Fidelio die nötige Fürsorge zuteilwurde.
Kaum war der Musiker auf die Stra ße getreten, sprach ihn der kleine Gerhard von Breuning an, der zwölfjährige Sohn seines Freundes Stephan. Der Junge war einer seiner glühendsten Bewunderer.
»Hallo, Ludwig, bist du auf dem Weg zu Fidelio?«, fragte er, überaus stolz, dass er Beethoven duzen durfte. Der Komponist war schon stocktaub und konnte nicht hören, was der Kleine sagte, doch seinem strahlenden Gesicht entnahm er, dass er nach dem Pferd gefragt haben musste.
»Wieso spielst du hier auf der Straße? Müsstest du nicht in der Schule sein?«, schimpfte Beethoven. Gerhard grinste, weil der Musiker viel zu laut gesprochen hatte, und er bedeutete ihm, sein Konversationsheft hervorzuholen.
Diese. Konversationshefte waren schlichte Notizb ücher, die Beethoven immer bei sich trug, wenn er aus dem Haus ging, um sich mit seinen Mitmenschen verständigen zu können. Die Taubheit war ganz langsam und schrittweise schlimmer geworden, deshalb hatte er sich einige Jahre zuvor noch mit den Hörrohren behelfen können, die sein Freund Mälzel für ihn gebaut hatte. Doch im März 1826 war es nun schon zehn Jahre her, dass Beethoven aufgehört hatte, vor Publikum Klavier zu spielen, weil er nahezu vollkommen taub geworden war. Seither verließ er das Haus nie ohne diese wertvollen Schreibblöcke. Auf eine leere Seite schrieb Gerhard: »Ich darf zwei Tage nicht zur Schule gehen.«
Beethoven lachte herzhaft bei dem Gedanken, dass man versuchte, einen Zw ölfjährigen mit zwei Tagen schulfrei zu bestrafen.
Wenn der Musiker in sein unnachahmliches Gel ächter ausbrach, schien es Gerhard immer, als würden dessen kleine braune Augen durch die Gesichtsmuskeln nach innen gedrückt und dadurch buchstäblich verschwinden. Die meisten Wiener hätten wohl keine Antwort auf die Frage gewusst, wann sie sich mehr vor Beethoven f ürchteten: wenn er mit einem zugleich wilden und gequälten Ausdruck die Stirn runzelte, oder wenn er schallend lachte und sich sein Gesicht dabei zu einer grotesken Maske verzerrte, aus der auf einmal jegliche Intelligenz verschwunden war.
»Wofür wirst du denn bestraft? Hast du schon wieder im Unterricht gesungen?«
Gerhard nickte, und Beethoven strich ihm komplizenhaft über das Haar. Er war es, der die unzureichende musikalische Ausbildung, die der Junge in der Schule erhielt, ergänzte.
»Ich gehe zur Hofreitschule. Wir wollen doch mal sehen, ob wir nicht einen guten Stall für Fidelio finden. Wenn du möchtest, kannst du mitkommen.«
Nat ürlich war der Junge einverstanden, und so machten sich die beiden gemeinsam auf den Weg zur Hofburg. Es war nicht einfach, auf der Straße neben Beethoven zu gehen. Sein Neffe Karl weigerte sich tatsächlich schon seit geraumer Zeit, seinen exzentrischen Onkel irgendwohin zu begleiten, da ihm dessen ständiges Singen und Zetern in der Öffentlichkeit peinlich war. Im besten Fall erntete der Komponist nur Blicke und Kommentare von Passanten, doch häufig war er auch die Zielscheibe von Spott und Lästereien der Gassenjungen und Halbstarken. Hinzu kam, dass er an manchen Tagen seine Körperpflege vernachlässigte und es ihm gleichgültig war, was er anhatte. Kein Wunder, dass Beethoven kaum jemanden fand, der freiwillig auf seinen Spaziergängen mit ihm kam. An jenem Morgen jedoch hatte er sich dazu entschlossen, sich zu rasieren, seine imposante Mähne zu kämmen und einen sauberen und gebügelten eleganten Anzug zu tragen – als ahnte er, dass das heutige Treffen sein Leben ver ändern würde.
Der kleine Gerhard von Breuning bewunderte Beethoven ungeachtet seiner äußeren Erscheinung von ganzem Herzen, und es bereitete ihm Vergnügen, dass der Komponist sich über die gesellschaftlichen Gepflogenheiten ungestraft hinwegsetzen konnte und die Straßen von Wien als sein erweitertes Zuhause betrachtete. Beethoven hatte seinerseits echte Zuneigung zu dem Jungen gefasst und nannte ihn »meinen Hosenknopf«, so unentbehrlich war er ihm. Der Junge machte unzählige Besorgungen für ihn, half ihm mit seiner Korrespondenz und beim Instandhalten seiner geräumigen Achtzimmerwohnung. Während sie die Währinger Straße hinunter Richtung Hofburg liefen, erzählte
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