Die 10. Symphonie
berührte.
»Jetzt kann ich es sehen. Und was für eine Bedeutung hat es?«
»Es ist ein Porträt von Beethovens Großvater. Er achtete ihn sehr, und dieses Porträt war eins seiner wichtigsten Besitztümer. Sooft Beethoven auch innerhalb Wiens umzog, das Bild seines Großvaters nahm er immer mit und hängte es jedes Mal in sein Arbeitszimmer.«
»Sieht gar nicht aus wie sein Großvater. Eher wie seine Großmutter.«
Daniel schmunzelte über Duráns Bemerkung. Er hatte nicht unrecht. Der Großvater des Genies hatte mit einer kolossalen femininen Pelzmütze posiert. Zusammen mit seinen nicht eben männlichen Gesichtszügen verlieh sie ihm das Aussehen einer älteren Dame. »Sein Name war Louis van Beethoven, das ist dasselbe wie Ludwig van Beethoven, nur auf Französisch.« »Ist der Nachname Beethoven nicht flämisch?« »Doch. Beet ist ein flämisches Wort und heißt Rübe . Und hoven ist die Mehrzahl von Hof . Beethoven bedeutet also Rübenhöfe . Aber Ludwig, der Enkel, unterschrieb auch gelegentlich mit Louis - wahrscheinlich als Hommage an seinen Großvater. Du weißt ja, er soll ein hervorragender Dirigent gewesen sein - andernfalls hätte er nicht den Posten des Musikdirektors am Hof von Bonn bekommen.« »Weißt du, was mir schwerfällt, Daniel? Mir ein Bild von Beethoven im Hause eines Bonaparte vorzustellen.« Durán spielte auf Beethovens Wutanfall 1804 an, als er erfuhr, dass Napoleon sich in Notre-Dame zum Kaiser hatte krönen lassen. Napoleons Machtgier war so groß, dass er sich die Krone nicht von Papst Pius VII. aufsetzen ließ, sondern es selbst tat. Seinen berühmten Ausspruch »Gott hat sie mir gegeben, wehe dem, der sie berührt!« hob er sich allerdings für das darauffolgende Jahr auf, als er sich in Mailand zum König von Italien erklärte. Auf Empfehlung des französischen Botschafters in Wien, Jean-Baptiste Bernadotte, hatte Beethoven Jahre zuvor angefangen, eine Napoleon gewidmete Symphonie zu schreiben. Der Komponist hatte eingewilligt, weil er zu jener Zeit, als Napoleon noch Erster Konsul war, zu seinen Bewunderern z ählte: Napoleon stand für die demokratischen und republikanischen Ideale der Französischen Revolution. Außerdem hatten sie sich beide aus eigener Kraft hochgearbeitet: Napoleon hatte sich dank seines Talents und seines Ehrgeizes an die Spitze des Heeres gesetzt - Beethoven hatte Wien erobert: ohne Beziehungen und Pfründen, einzig und allein durch sein Klavierspiel, seine unglaubliche Improvisationskunst und seine Kompositionen, die denen von Haydn und Mozart an Einfallsreichtum in nichts nachstanden oder diese sogar übertrafen.
Von 1803 an lag also die dritte Symphonie, die damals noch den Titel Symphonie Bonaparte trug, auf dem Arbeitstisch des Komponisten. Er wartete auf einen geeigneten Moment, um sie dem Widmungstr äger zu präsentieren. Die Krönung Napoleons Ende des folgenden Jahres verärgerte Beethoven jedoch - bezeugte sie doch für ihn unwiderleglich, dass der französische Revolutionär sich immer nur danach gesehnt hatte, einer sozialen Schicht anzugehören, der seine Landsleute den Kampf angesagt hatten. »Ist der auch nicht anders wie ein gewöhnlicher Mensch! Nun wird er auch alle Menschenrechte mit Füßen treten, nur seinem Ehrgeize frönen; er wird sich nun höher wie alle andern stellen, ein Tyrann werden!«, so habe Beethoven getobt, wie ein Schüler von ihm bezeugte. Er sei an den Tisch getreten, habe das Titelblatt der Symphonie genommen, es in zwei Teile zerrissen und auf den Boden geworfen.
»Wenn Beethoven Bonaparte verachtete, so wird es doch umgekehrt genauso gewesen sein? Vor allem, wenn man bedenkt, welche Hochachtung der Kaiser der Musik entgegenbrachte ...«
»Aber das Bild ist in dem Palast eines Bonaparte aufgetaucht, dessen Urururgroßvater eben doch Musikliebhaber war: Jeróme Bonaparte nämlich. Er wollte Beethoven sogar als Musikdirektor an seinen Hof von Westfalen holen.«
»Das Bild ist sehr schön«, sagte Durán versonnen. »Schön und geheimnisvoll. Und das Bemerkenswerteste habe ich dir noch gar nicht gezeigt. Schau, was Beethoven in der rechten Hand hält: ein Blatt mit klar und deutlich lesbaren Noten.« Daniel fing feierlich an zu singen. »Was für ein schräges Liedchen«, beklagte sich Durán, als er bei der letzten Viertelnote angelangt war. »Für mich ist das keine Musik.« »Was hast du gesagt?« »Dass das keine Musik ist.«
Da ging Daniel pl ötzlich auf, welches Geheimnis sich hinter der Melodie auf dem
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