Die 10. Symphonie
sich nur Kinder erlauben können, zwischen den verschiedenen, im Studierzimmer verteilten Gegenständen und Stichen herum, die fast alle mit Pferden zu tun hatten.
»Die Hippotherapie, Herr Beethoven«, fuhr der Veterinär fort, »kann Ihnen helfen, Ihren Gemütszustand erstaunlich zu verbessern. Dies wiederum stärkt Ihr gesamtes System, so dass Sie weniger anfällig sind für die Magen-Darm-Leiden, die Sie so plagen.«
»Aber wie funktioniert das?«, fragte der Komponist, denn nach den wenigen Ausritten in seinem Leben hatte er jedes Mal Schmerzen im Steißbein verspürt. »Als Erstes müsste man Ihnen beibringen, korrekt aufzusitzen. Das kann Ihnen hier in der Schule jeder zeigen. Doch wenn Sie erst einmal geübter mit dem Tier umgehen, werden Sie gleich sehen, wie sich Ihr körperliches und geistiges Befinden verbessert. Im Trab spürt der Reiter die insgesamt hundertzehn Bewegungen, die das Pferd pro Minute macht. Durch sie werden ohne Ausnahme alle Muskeln und Bereiche des Körpers, vom Steißbein bis zum Kopf, angeregt. So verbessern sich Gleichgewicht und Beweglichkeit des Patienten. Doch auch auf der Ebene des Gemüts ...«
Der ungew öhnliche schriftlich-mündliche Dialog wurde von einer Frauenstimme hinter der Tür unterbrochen. »Papa?«
»Komm nur herein, Liebes. Hier ist jemand, den du sicher kennenlernen möchtest«, sagte Don Leandro zu seiner Tochter.
»Papa, bitte, kommt einmal kurz heraus«, kam es dringlicher.
Der Arzt erhob sich etwas gereizt und warf Beethoven einen entschuldigenden Blick zu. »Tut mir leid, es wird nicht lange dauern.«
Don Leandro verlie ß das Zimmer und traf seine Tochter bebend vor Wut an.
»Ihr habt zu Francois gesagt, ich hätte die Blattern?« »Doch nur, damit er dich in Ruhe lässt, mein Kind. Du hast selbst gesagt, dass er dir auf die Nerven fällt.« »Wenn ich Eure Hilfe brauche, um die Burschen loszuwerden, lass ich es Euch wissen. Aber erzählt keine Lügen mehr in meinem Namen. Stellt Euch nur vor, diese Nachricht würde ans Konservatorium gelangen, und ich müsste in Quarantäne!«
»Ist ja gut, liebes Kind, ich werde mich nicht mehr in deine Angelegenheiten einmischen. Und nun komm mit ins Studierzimmer. Ich möchte dich jemandem vorstellen, von dem du schon so oft erzählt hast, als würdest du ihn bereits kennen.«
Vater und Tochter betraten das Zimmer, wo der Musiker wartete, und der Veterin är sagte mit von Vaterstolz geschwellter Brust: »Herr Beethoven, das ist meine Tochter, Beatriz de Casas.«
50
Wien, September 1826
Sehe ich wieder aus wie ein Griesgram? «, fragte Beethoven, der zähneknirschend die letzte Sitzung für das Porträt, das sein Freund Joseph Karl Stieler von ihm anfertigte, über sich ergehen ließ. »Als du vor einigen Jahren Kaiser Franz I. gemalt hast, hast du dir alle Mühe gegeben, damit Seine Majestät so heiter wie möglich wirkte. Aber aus mir macht ihr immer einen alten Menschenfeind, gequält und krank.«
Der Maler hatte gerade den letzten Pinselstrich am sicherlich letzten Portr ät Beethovens zu dessen Lebzeiten getan. Er legte Palette und Pinsel auf einen Tisch in der Nähe, und obwohl er wusste, dass der Musiker ihn nicht hören konnte, sagte er: »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, dass ich Porträtmaler geworden bin. Ich sollte Seestücke oder Stillleben malen, dann würde ich nicht jedes Mal, wenn ich jemanden porträtiere, einen Freund verlieren.«
Er wischte sich die H ände an einem Lappen ab und bedeutete dem Genie, näher zu treten, um das vollendete Gemälde zu betrachten.
Stieler war zweifellos ein gro ßer Porträtist. Charakteristisch für ihn war, dass er der Persönlichkeit des Porträtierten große Bedeutung beimaß. Dekorative Details, die bei manch anderem Maler nicht weniger wichtig waren als der portr ätierte Mensch, gab es in seinen Bildern praktisch nicht.
Stattdessen bediente sich der K ünstler eines sehr kontrastreichen Lichts, das die Gesichtszüge des Modells in den Vordergrund rückte, während der Hintergrund nahezu vollständig im Dunkeln lag.
Hochkonzentriert bewunderte Beethoven das Gem älde einige Augenblicke lang. Dann brach er wieder einmal in sein unverkennbares Gelächter aus.
»Ich lächle ja! Warum das? Hast du mich ein einziges Mal lächeln sehen, seit ich für dich posiere?« »Louis«, schrieb Stieler ins Konversationsheft, »ich habe dich nicht so gemalt, wie ich dich sehe, sondern wie du mir erscheinst. Und da du von nichts anderem sprichst als von
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