Die 10. Symphonie
beißen, um nichts zu sagen. Daniel fuhr fort:
»Beethovens letzte Sonate ist aus vielen Gründen interessant, vor allem aber, weil der Komponist hier eine perfekte Synthese aus den beiden musikalischen Formen erreicht hat, die er am meisten schätzte: aus der Fuge und der Sonatenform.«
»Daniel, mein Lieber, ich glaube, das musst du uns etwas genauer erklären, wenn du uns nicht dumm sterben lassen willst«, bat ihn die Richterin.
»Die Sonatenhauptsatzform ist eine Methode, die Töne so zu organisieren, dass eine Melodie - das Thema in der Tonika, also der Grundtonart - sozusagen einer anderen Melodie gegenübergestellt wird, dem Thema in der Dominante. Es handelt sich dabei um eine Übertragung des Operndramas in abstrakte Töne. Stellen Sie sich auf der einen Seite Tristan, auf der anderen Isolde vor, und dazu ein Publikum, das darauf wartet, dass diese zwei Figuren etwas erleben.«
»Und wer ist Tristan in dieser Sonate?«, wollte der Prinz wissen.
»Das Thema der Tonika, das in c-Moll steht. Sie haben es sicher schon einmal gehört.«
Daniel summte die drei unheilverk ündenden Noten des Themas aus dem Allegro con brio, und den Gesichtern seiner Zuhörer war anzusehen, dass jeder von ihnen dieses Motiv kannte.
»In dieser Sonate ist das Thema der Tonika - Tristan - allerdings keine einfache Melodie, sondern eine Fuge.« Bei Daniels letzten Worten öffnete sich eins der beiden großen Fenster des Salons ein wenig - es war das, unter dem der Flügel stand - und wurde von einer wütenden Böe geschüttelt.
Der Wind brach mit solcher Wucht in den Saal ein, dass einer Frau, erschreckt durch das pl ötzliche Getöse, ein durchdringender Schrei entfuhr, der den Anwesenden das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war, als schliche eine unsichtbare, bösartige Kreatur durch das riesige Fenster herein.
Nat ürlich wurde es unverzüglich von einem Bediensteten Marañóns geschlossen, und die Gäste nahmen ihre Gespräche wieder auf. Auch die Gäste in der Gruppe um Marañón erholten sich gerade wieder von dem Schreck, als sie bemerkten, dass der Prinz verschwunden war. »Wie unhöflich«, fand Nelsy.
Marañón bückte sich, um einen trockenen Zweig vom Boden aufzuheben, den der Wind dorthin gefegt hatte. Er zeigte ihn den anderen und sagte lächelnd: »Dies ist anscheinend alles, was von dem armen Bonaparte geblieben ist.«
»Wahrscheinlich holt er sich noch ein Glas«, mutmaßte Nelsy. »Er ist ja offensichtlich nicht so trocken wie dieser Zweig: schon drei Wodka Lemon, seit er bei uns steht.« Marañón hatte sich für einen Augenblick von der Gruppe entfernt, um Durán zu begrüßen, und hörte ihren neuerlichen taktlosen Kommentar nicht.
Die beiden M änner hatten sich lang nicht gesehen und umarmten sich überschwenglich. Dann nahm Marañón Durán beim Arm und führte ihn zu der Gruppe. »Ich weiß nicht, ob du Susana kennst?«, fragte der Gastgeber. »Wir haben uns angefreundet, weil ein Neffe meiner Frau, ein Gerichtsmediziner, in ihrem Team arbeitet.« Durán wirkte nicht so, als ob er ihm zuhörte: Seine Augen wanderten ruhelos suchend umher. »Hat er hier gespielt?«
»Wer? Thomas? Nein, in dem Salon nebenan, der ist größer. Seitdem wurde er nicht mehr benutzt.« »Weiß man noch nicht, wer es gewesen sein könnte?« Bevor Nelsy reagieren konnte, sagte die Richterin: »Nein, aber wir werden ihn erwischen. Schon seit einigen Jahren gibt es für die Strafverfolgung keine Grenzen mehr. Thomas' Mörder könnte zum Beispiel in Frankreich sein - dann wäre die Kriminalpolizei dieses Landes dafür verantwortlich, dass dieser gewissenlose Verbrecher noch Wochen nach der Tat die Polizei an der Nase herumf ührt.«
Niemand konnte auf die Bemerkung der Richterin eingehen, denn nun kehrte Abramowitsch im Triumph zur ück. Auf seiner rechten Augenbraue klebte ein kleines Pflaster. Einige der Anwesenden applaudierten sofort, als sie ihn durch die Tür eintreten sahen. Marañón wechselte ein paar Worte mit ihm und sagte dann mit besorgter Miene zu den versammelten Gästen:
»Schade: Er wird die Nr. 32 zwar spielen, doch er möchte aus den Noten spielen.«
Durán hob missbilligend die rechte Augenbraue. »Nicht auswendig? Dann sind die Gerüchte also wahr. Abramowitsch hat diese Sonate tausendmal gespielt. Er muss in einer Selbstbewusstseinskrise stecken. Das endet wohl in einem Rückzug a la Horowitz ...« Durán sprach von dem Nervenzusammenbruch des ukrainischen Pianisten Vladimir Horowitz im Jahre
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