Die 10. Symphonie
nicht etwa umgekehrt der Interpret dem Stück seinen Willen aufzwingt oder gewissermaßen dem Komponisten vorführt, wie er hätte komponieren sollen.
Und dann geschah es.
In der ersten Reihe begann, schrill und penetrant wie ein hungriges Baby, ein Handy zu klingeln. Wegen der Dunkelheit dauerte es eine Weile, bis Daniel die Person erkannte, die das Konzert st örte. Zum ersten Mal in seinem Leben empfand er das Telefonklingeln als Segen - Abramowitsch zerstörte mit seinen kapriziösen Ritardandi und Accelerandi Beethovens Sonate Nr. 32 ähnlich wie jener geistesgestörte Ungar die Pieta von Michelangelo, als er im Jahr 1972 mit wütenden Hammerschlägen und dem Schrei »Ich bin Jesus Christus!« seine Wut an dem Kunstwerk ausließ.
In der ersten Reihe suchte die neben dem Gastgeber sitzende Richterin Rodrfguez Lanchas verzweifelt jeden Winkel ihrer Tasche nach dem Handy ab. Anfangs hatte der Pianist das f ürchterliche Geräusch ignoriert und - in dem Glauben, Marañón werde schon dafür sorgen, dass die Störquelle schnell ausgeschaltet würde - einfach weitergespielt. Doch das Klingeln war laut und wollte kein Ende nehmen, so dass er schließlich doch aufhörte und der Suche nach dem Handy ohnmächtig zusah.
Dona Susana war gezwungen, den Inhalt ihrer Handtasche vollst ändig auf dem Boden auszuleeren, da sich das Telefon wie ein Tiefseetier in der dunkelsten Höhle einer Seitentasche verkrochen hatte und sich weigerte, zum Vorschein zu kommen.
Als es endlich drau ßen war, musste Marañón den Apparat ausschalten, denn die Richterin hatte die Nerven vollkommen verloren und war nicht einmal mehr in der Lage, die richtige Taste zu drücken. Als Letztes half ihr der Millionär, das Sammelsurium, das nun auf dem Boden lag, wieder in die Tasche zu räumen: Brieftasche, Portemonnaie, Zigarettenetui, Haustürschlüssel, Autoschlüssel, Büroschlüssel, Sonnenbrille, iPod, Handy, Taschentücher, feuchte Tücher, noch ein Schlüssel mit einem Endstück in Kleeblattform, eine Feile, ein Mäppchen mit Schere, Nadel und Faden, ein Necessaire mit Kopfschmerztabletten, Pflaster, Kugelschreiber, Kamm, Lippenstift, Parfümfläschchen, Haarklammern, ein kleiner Spiegel, Brille, Kaugummis und ein paar Zuckerbeutelchen.
Das Konzert war vorbei. Abramowitsch hatte dem St ück mit der Arietta und den Variationen des zweiten und letzten Satzes buchstäblich ein Ende gemacht. Doch nicht das Konzert selbst war danach das Hauptthema - es hatte das Publikum unerklärlicherweise im Großen und Ganzen überzeugt -, sondern der Vorfall mit dem Handy der Richterin.
Marañón gratulierte Daniel zu seiner hervorragenden Arbeit f ür diesen eigenwilligen Musiker. Doch der hörte das Kompliment kaum - eine merkwürdige Angelegenheit erregte seine Aufmerksamkeit: Ein Kellner war mit einem Tablett voller Gläser an ihre Gruppe herangetreten, doch bevor irgendjemand sich bedienen konnte, drehte er sich um und ging auf eine andere Gruppe zu. Es schien Daniel, als habe der Kellner auf ein kaum merkliches Zeichen Marañón s reagiert.
Die Richterin war sichtlich angeschlagen wegen des Vorfalls. Sie erholte sich erst, als sie einen Gin Tonic vom Tablett genommen hatte - auf ihren Wunsch mit reichlich Gin. Ungef ähr zwanzig Minuten danach war Dona Susana auf einmal unwohl. Der Erste, der dies bemerkte, war Marañón selbst. Er empfahl ihr, an einem offenen Fenster frische Luft zu schnappen - schließlich war diese nun voller wohltuender Anionen.
»Vielleicht habe ich es mit dem Gin Tonic übertrieben«, sagte die Richterin matt.
»Willst du dich kurz hinlegen?«, schlug Marañón vor. »Wahrscheinlich lässt jetzt die Anspannung nach.« »Ja, bitte, ich würde mich gerne ausstrecken. Meine Beine ...«
Sie konnte den Satz nicht zu Ende bringen - als w äre die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn plötzlich unterbrochen worden, sackte sie in sich zusammen. Nur Marañóns schneller Reaktion - er legte ihr stützend einen Arm zwischen die Schulterblätter - war es zu verdanken, dass sie nicht polternd zu Boden stürzte.
Als der Million är die Richterin zu Boden hatte gleiten lassen, verscheuchte er als Erstes die Neugierigen, die sich innerhalb weniger Sekunden um das Opfer geschart hatten, um bei diesem Spektakel in der ersten Reihe zu stehen. Sie raubten der Richterin jegliche frische Luft, die doch bei Ohnmachtsanfällen so wichtig war. »Zurückbleiben, bitte! Sie muss atmen können!«, rief Marañón.
Sogleich erschien Felipe Pontones, der
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