Die 10. Symphonie
1953, nach dem dieser zwölf Jahre lang keine Bühne mehr betrat. »Das ist jetzt nicht der Augenblick, um über Abramowitschs Karriere zu spekulieren«, sagte Marañón. »Er hat mich gerade gefragt, ob jemand die Seiten für ihn umblättern kann. Daniel, trauen Sie sich das zu?« Paniagua zögerte. Er wusste, worum ihn sein Gastgeber damit bat: Zum Umblättern musste man nicht bloß Noten lesen können, sondern sich auch in höchstem Maße konzentrieren, damit man im entscheidenden Moment weder zu früh noch zu spät dran war. Jegliche Abgelenktheit konnte sich verhängnisvoll auswirken. Für Abramowitsch zu blättern, der nicht nur einer der ganz Großen der Gegenwart war, sondern auch noch der launischste und verschrobenste Pianist der letzten zehn Jahre, war ein großes Wagnis, und Daniel str äubten sich schon beim Gedanken daran, auf der Bühne einen Fehler zu machen, die Nackenhaare.
»Daniel, niemand hier kennt diese Sonate besser als Sie«, drängte ihn Marañón. »Wenn Sie es nicht machen, können wir davon ausgehen, dass es heute kein Konzert gibt.« Da nahm Paniagua seinen Mut zusammen: »Na gut. Ich geb mein Bestes.«
Marañón brachte Daniel zur Bühne und stellte ihn Abramowitsch vor, der ihm, wie es seine Gewohnheit war, nicht die Hand reichte. Der Pianist zeigte ihm die Noten und gab ihm mit gesenkter Stimme ein paar Hinweise, die Paniagua konzentriert anhörte.
Das Publikum setzte sich. Der Pianist wurde von oben angeleuchtet, ansonsten war die B ühne dunkel. Abramowitsch brachte seinen Hocker in die richtige Position, und Daniel setzte sich ungefähr einen Meter vom Flügel entfernt hin. Er saß diskret im Hintergrund, außerhalb des Lichtkegels.
Genau in diesem Moment, Sekunden bevor der Pianist zu spielen begann, entlud sich endlich das Gewitter, das sich seit Stunden zusammengebraut hatte. Der erste Blitz erleuchtete einen Augenblick lang den ganzen Saal wie der Blitz einer Kamera. In diesem pl ötzlichen Aufleuchten sah Daniel den Gerichtsmediziner Felipe Pontones in einer der vorderen Reihen sitzen. Es schien, als ob er nicht den Pianisten anschaute - sondern ihn. Wenige Sekunden darauf folgte der Donner, der Jesus Marañóns imposante Villa bis in die Grundmauern zu erschüttern schien.
Bevor der Pianist die ersten T öne spielte, blitzte es noch einmal, und diesmal erblickte Daniel hinten im Saal den Prinzen Bonaparte - so blass, dass er kaum zu erkennen war. Die Richterin sa ß in der ersten Reihe und konnte Daniel sehr gut sehen, obwohl er nicht im Licht saß. Sie schien bemerkt zu haben, dass etwas hinten im Saal seine Aufmerksamkeit erregt hatte, denn sie wandte den Kopf in dieselbe Richtung.
Im Licht der aufeinanderfolgenden Blitze und von seiner erh öhten Position auf der Bühne aus konnte Daniel die geisterhaften Gesichter der Konzertbesucher gut erkennen. Da war Sophie Luciani in einem Cocktailkleid aus dunklem Satin, das ihre zarte Figur sinnlich hervorhob, oder Prinzessin Bonaparte, die für diesen Anlass ein silbergraues Abendkleid mit rundem Ausschnitt und schmalen Trägern gewählt hatte.
Alle lauschten hochkonzentriert Abramowitschs Interpretation. Dieser hatte das Konzert überraschend begonnen, indem er nach Gutdünken die langsame Einleitung - das Maestoso - der Sonate wegließ, die voll von düsteren verminderten Septakkordsprüngen war, und attacca in das Thema der Fuge in c-Moll einstieg. Er machte seinem Ruf als Exzentriker am Klavier alle Ehre und spielte das Allegro con brio ed appassionato so bedächtig, dass Beethovens herrliche Musik in diesem langsamen Tempo ihren eigentlich vorwärtsdrängenden Impuls und ihren strukturellen Zusammenhalt verlor und beinahe bis zum Stillstand erlahmte. Daniel hatte schon von Abramowitschs seltsamer Technik am Klavier gehört, doch nun, wenige Zentimeter hinter ihm sitzend, konnte er sie in allen Einzelheiten studieren: Die Hand befand sich fast immer unterhalb der Tastenhöhe, die Finger waren ungewöhnlich gerade ausgestreckt, um die Akkorde anzuschlagen, und der kleine Finger der rechten Hand war, solange er nicht gebraucht wurde, zusammengerollt, um dann - zack! -wie der Stachel eines Skorpions hervorzuschnellen. Paniagua gratulierte sich selbst dazu, wie gekonnt er seine heikle Aufgabe erledigte. Gleichzeitig musste er an den Ausspruch eines ber ühmten, von ihm sehr verehrten Pianisten denken: Der rühmte sich, aus einer Tradition zu stammen, in der das Meisterwerk dem Interpreten vorgibt, was er zu tun hat, und
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