Die 10. Symphonie
meisten von ihnen hatten ein Glas in der Hand und standen in kleinen oder gr ößeren Gruppen in dem weiträumigen Salon, der als Konzertsaal diente. Über Lautsprecher wurde als Hintergrundmusik eins der letzten Beethoven-Quartette eingespielt.
Um den Gastgeber herum standen der Prinz Bonaparte - diesmal hatte er der Einladung folgen k önnen -, eine Frau mittleren Alters, von der Daniel glaubte, sie schon bei Thomas' letztem Konzert gesehen zu haben, und die Richterin Rodriguez Lanchas. Durán war noch nicht da.
Marañón lud ihn ein, sich zu ihnen zu gesellen, und sagte verbindlich: »Susana kennen Sie ja schon.« »Aber sicher«, sagte die Juristin und begrüßte ihn herzlich mit den obligatorischen Luftküssen. »Daniel hilft mir schließlich bei einem meiner Fälle.«
Bevor der Million är Gelegenheit hatte, ihm die Übrigen aus dem Kreis vorzustellen, ergriff die Frau, die - wie Daniel später erfuhr - Nelsy hieß und mit dem spanischen Generaldirektor eines amerikanischen Erfrischungsgetränkekonzerns verheiratet war, das Wort: »Wo wir gerade von Kriminalfällen reden: Wie es scheint, gibt es noch keine einzige Festnahme im Fall Thomas. Das ist doch ein Skandal! Wenn wir wirklich in Europa angekommen wären, wie die Regierung behauptet, würde der Mörder schon längst hinter Gittern sitzen, so viel steht fest.«
Eine angespannte Stille folgte.
Niemand wusste, ob der Frau nicht bekannt war, dass Dona Susana den Fall leitete - und sie daher unwissentlich ins Fettn äpfchen trat -, oder ob sie die Richterin absichtlich provozierte. Diese Unsicherheit hielt nicht lange an, denn die Juristin antwortete sogleich klar und deutlich:
»Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, Señora, dass die Leiterin des Ermittlungsverfahrens in dem erwähnten Fall vor Ihnen steht.«
Man h ätte den Eindruck bekommen können, sie fletsche die Zähne - wenn ihr Gesicht nicht halb gelähmt gewesen wäre.
»Das wusste ich nicht«, erwiderte die Frau. Ihre Unwissenheit wirkte aufrichtig, doch übermäßig peinlich schien ihr der Lapsus auch nicht zu sein. »Wenn das so ist, bitte ich um Verzeihung, obwohl meine Kritik nicht persönlich gemeint war, sondern sich ganz allgemein gegen das Chaos richtet, das in den Gerichten herrscht, seit die neue Regierung im Amt ist.«
Marañón sah, dass die Richterin streitlustig wurde, und griff ein: »Verderben wir uns nicht den Abend, Susana.« »Ja, sind wir nicht hergekommen, um uns zu entspannen?«, sprang ihm Bonaparte bei. »Es bringt doch nichts, sich unnötig aufzuregen.«
»Und erst recht nicht an einem solchen Abend«, fügte Marañón hinzu. »Merkt ihr das? Irgendetwas liegt in der Luft; etwas Unheilvolles, könnte man meinen. Erst verletzt sich unser Künstler, und nun geraten sich auch noch zwei meiner besten Freundinnen grundlos in die Haare.« »Etwas Unheilvolles?«, wiederholte der Prinz. »Sind Sie etwa abergläubisch?« Der Gastgeber lächelte bei dieser Frage. »Überhaupt nicht, mein lieber Prinz. Ganz im Gegenteil, alles, was mit Bauernfängerei zu tun hat, regt mich auf. Was ich sagen wollte: Die Luft ist heute Abend wegen des bevorstehenden Gewitters elektrisch aufgeladen, mit Kationen, und obwohl man diese Ladung positiv nennt, ist sie doch extrem negativ und schädlich für den Menschen:
Sie ist der Grund f ür Erschöpfung, Reizbarkeit und Schlaflosigkeit.«
»Lieber Jesus«, sagte Nelsy, »wie kommt es dann, dass es in deiner fabelhaften Villa noch keinen Ionisator gibt?« »Es gibt ja einen, Nelsy, aber er wird so viel genutzt, dass er ausgerechnet heute den Geist aufgegeben hat. Nun bleibt zur Reinigung der Luft nur noch eins: dass sich das heraufziehende Gewitter so bald wie möglich entlädt.« Marañóns Sekretär trat unbemerkt von hinten an ihn heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Gute Neuigkeiten: Jaime hat mir gerade gesagt, dass Abramowitsch wiederhergestellt ist und nun von meinem Chauffeur hierhergebracht wird«, verkündete Marañón und schaute auf die Uhr. »Es ist sehr spät geworden. Aber zumindest für Beethovens letzte Sonate reicht die Zeit noch. Daniel, wieso erzählen Sie uns nicht ein wenig über die Nr. 32?«
»Gern. Sie ist in c-Moll, wie alle besonders impulsiven Werke Beethovens: die fünfte Symphonie, die zehnte, deren erster Satz vor einigen Wochen hier aufgeführt wurde ...« »Und die, wie man sich erzählt, diesen armen Mann das Leben gekostet haben soll«, unterbrach Nelsy. Die Richterin musste sich auf die Lippen
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