Die 10. Symphonie
»Musikwissenschaftler. Warum?«
»Ach, ich sehe Sie nur immer in diesem Gebäude da ein und aus gehen. Hier haben Sie Ihren Hotdog.« Der Verkäufer langweilte sich und versuchte, Daniel in eine halbwegs tiefsinnige Plauderei zu verwickeln, so wie Taxifahrer, die schon länger keine Fahrt mehr gemacht haben.
»Spielen tun Sie also nicht so richtig?« »Ich spiele etwas Klavier, aber damit könnte ich keinen Blumentopf gewinnen. Wir Musikwissenschaftler forschen hauptsächlich. Über Partituren und solche Dinge.
Man k önnte fast sagen, der Unterschied zwischen einem Musikwissenschaftler und einem Musiker ist so groß wie der zwischen Wirt und Virtuose.«
»Haha, sehr gut. Dann bin ich wohl der Wirt eines Virtuosen: Mein Sohn spielt Gitarre wie ein junger Gott. Aber ich ermuntere ihn nicht allzu sehr, schließlich nagen die Musiker alle am Hungertuch.«
»Na ja, wenn einer sehr gut ist, nicht. Als Musikwissenschaftler dagegen schwimmt man wirklich nicht gerade in Geld, das kann ich Ihnen versichern.« »Wer tut das schon? Solange man nicht im Lotto gewinnt ...«
»Ich spiele kein Lotto. Um nicht mehr dauernd abgebrannt zu sein, müsste ich eine Bank überfallen. Oder ich müsste einen Glückstreffer landen und eine wertvolle Partitur entdecken. Ja, mit einem unveröffentlichten Manuskript würde ich ein Heidengeld machen.« Der Hotdog-Verkäufer grinste ihn an, beinahe komplizenhaft und nicht ohne eine gewisse Gier. »Von was für Summen sprechen wir?« »Unglaublich hohen. Für eine vollständige Partitur der neunten Symphonie Beethovens ... Kennen Sie die?« »Taaa, ta, ta, ta, ta, ta, ta, ta ...«, schmetterte der Verkäufer los, und das gar nicht mal so schlecht. »Natürlich kenne ich die.«
»Genau das meine ich. Die Ode an die Freude ist allerdings nur ein Teil davon. Für die ganze Symphonie, ein Manuskript von über fünfhundert Seiten, wurden vor ein paar Jahren bei einer Versteigerung in London 2133000 Pfund Sterling bezahlt - über drei Millionen Euro.« »Das ist ja ein Ding!«, sagte der Verkäufer, der sich offenbar eine weit niedrigere Summe vorgestellt hatte.
»Obendrein geht es hier um eine Partitur, die nicht von Beethovens Hand geschrieben wurde. Sie ist zwar voller Randnotizen von ihm, aber es ist nur die Abschrift eines Kopisten.«
»Und wer kann es sich leisten, so ein Vermögen für ein paar Blatt Papier auszugeben? Irgendein Museum oder etwas in der Art?«
»Ein privater Sammler, der bei der Versteigerung nicht einmal im Saal war. Er bot per Telefon. Das sind die Verrücktesten.«
»Na, der hat jedenfalls ausgesorgt. Suchen Sie eine dieser Partituren, und dann ist Schluss mit dem Klimpergeld. Und wenn Sie eine finden, denken Sie an Ihren alten Freund Antonio. Oh, ich habe mich Ihnen noch gar nie vorgestellt: Antonio Penalver, zu Ihren Diensten.« Daniel reichte ihm etwas ungeschickt den kleinen Finger seiner mit Ketchup bekleckerten Hand. Er hatte außerdem gerade den halben Hotdog im Mund, so dass er nicht mehr als »Mh hmhm« und Kaugeräusche herausbrachte. »Herrje, essen Sie nur in Ruhe. So viel Zeit muss sein.« Es dauerte fast eine Minute, bis Daniel den Brot-und-Würstchen-Klumpen in seinem Mund heruntergeschluckt hatte. Das Konzert machte ihn nervös. »Ich heiße Daniel Paniagua, wollte ich sagen.« Der Verkäufer schien ganz weit weg zu sein, versunken in seine Kalkulationen. »Drei Millionen Euro! Den Wagen hier würde ich zum Teufel jagen.«
»So viel wird für eine bereits bekannte Partitur bezahlt. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, man würde eine vollkommen unbekannte Partitur aufspüren. Das wäre, als entdeckte man einen neuen Picasso!« »Ich ahne, was jetzt kommt.«
»Nehmen wir einmal an, man würde eine neue Symphonie von Beethoven rinden. Die Zehnte. In einem von ihm handgeschriebenen Manuskript. Geniale Musik, die niemand jemals gehört hat, weil sie noch nie aufgeführt wurde.« »Da könnte man, nach dem, was Sie gesagt haben, ohne weiteres auf sechs Millionen Euro kommen.« »Oder dreißig Millionen, wer weiß? Vor kurzem stand doch in der Zeitung, dass für ein Bild von Klimt 135 Millionen Dollar gezahlt wurden. Und Klimt ist ein großer Maler, aber er ist kein Goya oder Velázquez.« »Klimt kenne ich nicht. Oder meinen Sie Clint Eastwood?«
»Worauf ich hinauswill: Die neunte Symphonie Beethovens wird als eine der größten künstlerischen Errungenschaften der Menschheit betrachtet, vergleichbar mit Shakespeares Hamlet oder Cervantes' Don Quijote.
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