Die 10. Symphonie
mit besten Beziehungen nach ganz oben.« »Er ist ein Freund des Ministers, oder?« »Wenn es nur das wäre. Wirf mal einen Blick darauf, was dieser Kerl schon alles erreicht hat.« Subinspector Aguilar blätterte durch ein inoffizielles Dossier über Jesus Marañón, das ihm Mateos gegeben hatte. »Stimmt das alles? Ich meine, hat er wirklich ...« »Meine Informanten sind verlässlich«, unterbrach ihn der Inspector verärgert. Er mochte es nicht, wenn man ihm nicht glaubte.
»Nehmen wir an, nur als Arbeitshypothese, dass Marañón Thomas getötet hat. Was für ein Motiv hätte er?« Als Ergebnis eines für ihn typischen Gedankenganges erklärte Mateos dem verblüfften Subinspector: »Das Motiv ist klar: Was der Mörder wollte, war der Kopf des Opfers.«
12
Als Paniagua nach seiner blutr ünstigen Unterhaltung mit Durán ins Seminar kam, stellte er fest, dass Villafane seine Studenten mit einem Vortrag über »Die Schüttelidiophone in den präkolumbianischen Kulturen südlich des Amazonas« quälte. Selbst er als Musikwissenschaftler hatte Mühe, sich daran zu erinnern, was Idiophone waren: sogenannte »Selbstklinger«, die wie die Glocke, also ohne Saiten oder Membranen, Klang erzeugten. Außer Sotelo, dem Besserwisser des Seminars, der umso begeisterter mitzumachen pflegte, je abstruser der Unterricht war, dämmerten alle Studenten halbkomatös vor sich hin.
So staubtrocken das Thema auch sein mochte - Paniagua freute sich doch, dass Villafane wenigstens eins gew ählt hatte, von dem er etwas verstand. Das letzte Mal, als er ihn vertreten hatte, war er auf ein musiktheoretisches Thema eingegangen, und Paniagua hatte einen ganzen Monat gebraucht, seinen Studenten den Unsinn auszutreiben, den Villafane ihnen in nur fünfzig Minuten beigebracht hatte. Er bedankte sich bei seinem Kollegen und beschloss, die halbe Stunde bis zum Ende des Seminars zu nutzen, um einige Gedanken auszuführen, die er in der vorherigen Stunde bereits angesprochen hatte. Die Anstrengung, die es ihn kostete, sich auf seine Erklä rungen zu konzentrieren, empfand Daniel allerdings als fast übermenschlich. Schon eines der beiden Dinge, die ihm im Kopf herumspukten, hätte eigentlich gereicht: Da war zum einen Thomas und dessen grausiges Ende, zum anderen Alicias unerwartete Schwangerschaft. Sie war noch ganz am Anfang, deshalb hatten sie sich einige Tage Zeit geben können, um zu entscheiden, was nun das Beste war. Daniel war derjenige von ihnen, der eher dazu neigte, das Kind haben zu wollen.
Doch wenn die Unsicherheiten und Gr übeleien über seine Vaterschaft schon einen großen Teil seiner Energien in Anspruch nahmen, so verlangten der Mord an Thomas und dessen merkwürdiges Verhalten in den Stunden zuvor noch mehr Aufmerksamkeit. Im Rückblick erschienen immer wieder einzelne Details aus ihrer Unterhaltung vor Daniels innerem Auge: Thomas, wie er sich unbewusst in einer unheimlichen Vorwegnahme seines Schicksals den Hals reibt; seine Weigerung, Daniel in die Garderobe eintreten zu lassen, obwohl dort doch keine Menschenseele war; der seltsame Telefonanruf, der - nun für immer und ewig - verhindert hatte, dass er ihm ein paar Schlüsselfragen über die zehnte Symphonie stellen konnte. Und vor allem die schreckliche Fotografie des enthaupteten Musikers, dessen Körper sich noch nach dem Tod in heftigem Schmerz zu winden schien.
Daniel hielt es nicht f ür ratsam, seinen Unterricht damit zu beginnen, von dem Konzert und dem Verbrechen zu erzählen. Es war anzunehmen, dass dies den Rest der Zeit mehr als füllen würde. Doch er war mit den Gedanken nicht bei der Sache und musste seine Studenten bitten, ihm zu helfen: »Wo waren wir gerade stehengeblieben?«
»Sie haben über die Abegg-Variationen von Schumann gesprochen«, sagte Sotelo.
»Ah ja, jetzt habe ich es wieder«, antwortet Paniagua. »Die Buchstaben sind Noten und die Noten Buchstaben. Auf Deutsch lauten die Notennamen nicht do, re, mi, ja, sol, wie hier in Spanien, sondern jeder Note entspricht ein Buchstabe: La ist A, si ist H, do ist C, und so weiter.« Daniel war an die Tafel gegangen und schrieb die Noten in der Reihenfolge des Alphabets an, während er sprach:
A = la; B = si bemol; C = do; D = re; E = mi; F = ja; G = sol
»Schumann las und schrieb sehr gerne. Häufig entwickelte er seine Kompositionen ausgehend von literarischen Ideen. Diese Leidenschaft für den gedruckten Buchstaben spiegelte sich auch darin, wie er die Damen hofierte, die er verführen wollte.
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