Die 10. Symphonie
Er machte es sich zunutze, dass in seiner Sprache die Notennamen Buchstaben waren, und erdachte verschiedene Kompositionen, die sowohl einen musikalischen als auch einen buchstäblichen Sinn hatten. So wie eben die Abegg-Variationen: Sie kreisen um ein Thema aus den Noten A, B, E, G, G, die, als Buchstaben gelesen, den Nachnamen einer jungen Pianistin ergeben, die Schumann in Mannheim kennengelernt hatte - Meta Abegg. Bei einer anderen Gelegenheit nutzte Schumann dieses Mittel, um Ernestine von Fricken, eine junge Frau aus dem böhmischen Asch, zu betören. Diesmal war das Thema aus den Noten A, Es, C und H zusammengesetzt. Da es keine dem Buchstaben S entsprechende Note gibt, hat er dafür das Es, also ein um einen Halbton erniedrigtes E verwendet, weil beide gleich ausgesprochen werden.«
Paniagua fragte sich pl ötzlich, weshalb wohl der dauerverliebte Beethoven nicht auch darauf gekommen war, diese Technik anzuwenden, um seine unzähligen Geliebten zu verführen .
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Alicia Rios, Daniels Freundin, war eine athletische und mit ihrer üppigen schwarzen Lockenpracht sehr spanisch wirkende Frau. Die Augen dagegen, grün und leicht mandelförmig, gaben ihr den exotischen Touch, der ihren Freund so bezauberte. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt als Systemingenieurin. Ein wenig bekannter Beruf, in dem man die Strukturen eines Systems und seiner Subsysteme auswertet, um deren Arbeitsweise zu optimieren. Vor sechs Monaten hatte sie das großzügige Angebot eines internationalen IT-Konzerns angenommen, was mit sich brachte, dass sie mindestens zwei Jahre in Frankreich, in Grenoble, leben würde. Sie hatte die Entscheidung getroffen, ohne darüber mit Daniel zu sprechen. Dies hatte zu Unstimmigkeiten zwischen ihnen geführt, die noch nicht ganz überwunden waren. Sie hatten festgelegt, dass sie sich strikt mit den Besuchen abwechseln würden. In der Praxis war es jedoch Alicia, die den physischen und finanziellen Aufwand der Reisen nach Madrid betrieb, da ihr Einkommen das von Daniel um ein Vielfaches überstieg. Die Schwangerschaft, in der Nacht zuvor so unvermittelt verkündet, war nicht geplant gewesen. Überzeugt, dass Alicia gerade nicht ihre fruchtbaren Tage hatte, waren sie bei Daniels letztem Besuch in Grenoble so unvorsichtig gewesen, kein Kondom zu benutzen.
Jetzt erneut mit Alicia zu schlafen half Daniel langsam aus dem Schockzustand heraus, in den ihn Thomas' Tod versetzt hatte. Er bat sie, ihm etwas auf Franz ösisch ins Ohr zu flüstern, und sie brachte ihm bei, dass sein bestes Stück in der Sprache Balzacs zizi hieß.
Noch im Bett schalteten sie den Fernseher an, um das Neueste über den vor weniger als vierundzwanzig Stunden verübten Mord zu erfahren.
Die Enthauptung des Musikers war nicht nur in den wichtigsten Nachrichtensendungen das Thema des Tages; nat ürlich hatten sich auch die weniger seriösen Programme mit Verve auf das Thema gestürzt. Und sogar die Sendungen, die sich nicht direkt damit beschäftigten, schienen von dessen Grausamkeit inspiriert. Bei den Filmen etwa gab es in dieser Woche auf allen Kanälen Programmänderungen, und die Ersatzfilme waren anscheinend nur nach einem einzigen Kriterium ausgewählt worden - dass sie von einem Verbrechen handelten, das dem soeben begangenen ähnelte. Man zeigte Aguirre, der Zorn Gottes (einer der Figuren wird der Kopf mit einem Schwert abgetrennt, dieser landet ein Stück vom Körper entfernt auf dem Boden und beendet den zuvor begonnenen Satz), Demolition Man (der gefrorene Kopf von Wesley Snipes fliegt nach einem Tritt Sylvester Stallones wie ein Fußball durch die Lüfte), Kill Bill (Lucy Liu macht das Mitglied einer japanischen Yakuza mit einem Katana einen Kopf kürzer), Der Patriot (ein amerikanischer Soldat wird durch eine Kanonenkugel enthauptet), Johnny Mnemonic (der Böse wird mit seiner eigenen Peitsche, scharf wie ein Rasiermesser, geköpft). Doch die Krönung war die Sendung Salomes Talk, in der ein Kriminologe auftrat, der den Zuschauern mit Hilfe einer Wassermelone und einer echten Guillotine erkl ärte, wie dieser makabre Apparat funktionierte. Dann erläuterte der Experte: »Die Leute halten die Guillotine für eine Erfindung der Französischen Revolution, doch bereits im 14. Jahrhundert gab es in Irland ein ähnliches Gerät, und im 16. Jahrhundert wurde in Italien und im Süden Frankreichs die Mannaia verwendet, die der Guillotine sehr ähnelt, aber dem Adel vorbehalten war.« Alicia war empört. Sie band sich die Haare mit
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