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Die 10. Symphonie

Die 10. Symphonie

Titel: Die 10. Symphonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Gelinek
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dieser Schatz, das vollständige Manuskript der Zehnten, existiert, und Thomas hatte Zugang dazu; oder wenigstens zu einem Teil davon. Was wäre sein Marktwert?«
    »Darauf könnte kein Experte mit Bestimmtheit antworten. Aber er läge sicher bei vielen Millionen Euro.« »Mehr als zehn?«
    »Sehr wahrscheinlich ja. Ein Lied von den Beatles, All You Needls Love ...«
    «Das kenne ich - das einzige, was ich singen kann. Es ist doch der Song, der mit der Marseillaise anfängt, oder?« »Ja, genau. Letztes Jahr hat ein Beatlesfan John Lennons Manuskript für eine Million Dollar ersteigert. Und es ist und bleibt ein einfacher Popsong, den jeder bereits kennt. Die Zehnte, falls es sie gibt, wäre ein unveröffentlichtes Beethoven-Manuskript und vermutlich das wichtigste künstlerische Fundstück der letzten Jahrhunderte. Außerdem würde sein Auftauchen dem Fluch der Neunten ein Ende bereiten «, schloss Daniel und klang dabei wie ein Finsterling aus Transsylvanien. »Was für ein Fluch ist das?«
    Die Juristin versuchte, Gleichg ültigkeit vorzutäuschen, aber Daniel bemerkte eine gewisse Beklemmung in ihrem Tonfall. Vielleicht war sie auch schlicht und einfach neugierig. Das Wort »Fluch«, das Daniel plötzlich albern vorkam, schien die übliche Wirkung zu entfalten, und er bereute schon, das Thema angeschnitten zu haben, weil es letztlich wie ein Ammenmärchen klang. Er versuchte abzulenken.
    »Das ist bloß dummes Geschwätz. Großstadtlegenden. Also, der künstlerische Wert der Zehnten ...« »Davon kannst du später erzählen. Jetzt sag mir erst einmal, was der Fluch der Neunten ist.« »Das ist ein Aberglaube, der seit Beethoven unter Musikern herrscht: Alle Komponisten von Symphonien sterben, nachdem sie ihre neunte Symphonie vollendet haben. Mahler zum Beispiel glaubte offenbar an den Fluch und versuchte, ihn zu umgehen. Nachdem er die Achte fertiggestellt hatte, machte er sich nicht daran, die Neunte zu komponieren, sondern schrieb Das Lied von der Erde. Das war eigentlich eine Symphonie für Tenor, Alt und Orchester, doch er glaubte, sich von dem Fluch befreien zu können, wenn er sie nicht mit Neunte Symphonie betitelte. Danach schrieb er doch noch eine neunte Symphonie und starb kurz darauf. Genau wie Beethoven.« »Gibt es noch mehr solcher Fälle?«
    »Viel mehr: Bruckner, Schnittke, Vaughan Williams, Egon Wellesz. Und ein russischer Komponist, Alexander Glasunov, legte seine neunte Symphonie beiseite, nachdem er den ersten Satz geschrieben hatte, und widmete sich ihr nie wieder. So umging er den Fluch und lebte noch weitere sechsundzwanzig Jahre. « »Glaubst du daran?«
    »Nein, aber ich bedaure es oft, so ein Skeptiker zu sein. Die Welt wäre viel aufregender, wenn es solche übersinnlichen Phänomene gäbe.«
    Die Richterin gestand ihm daraufhin etwas, das er lieber nicht geh ört hätte.
    »Bei mir ist es genau andersherum: Ich wäre gerne weniger abergläubisch, aber ich kann nicht anders. In meinem Beruf habe ich zu viel Schreckliches gesehen, um nicht an übernatürliche und böse Kräfte zu glauben, die regelmäßig in unser Leben eingreifen. Ich habe gewissermaßen den berühmten Ausspruch von Joseph Conrad ins Gegenteil verkehrt, der ungefähr so lautet: Der Glaube an einen übernatürlichen Ursprung des Bösen ist nicht notwendig; die Menschen sind von sich aus zu jeder Gemeinheit durchaus fähig. Im Übrigen wurde ich an einem 13. geboren, heiratete am 13., und meine Tochter kam am 13. zur Welt. Die 13 verfolgt mich.«
    »Das stimmt so lange, bis sich die nächste große Sache in deinem Leben an einem 14. ereignet.« »In meinem Alter können keine großen Sachen mehr geschehen. Außer dass der Sensenmann zur Tür hereinspaziert, natürlich.«
    »Oder dass du Thomas' Mörder schnappst, nicht?« »Ich glaube nicht, dass wir ihn erwischen werden. Meiner Erfahrung nach werden Mordfälle sofort gelöst oder nie. Und wir haben nicht die leiseste Ahnung, wer es gewesen sein könnte.«
    »Aber in einem Punkt können wir sicher sein: Wenn die Zehnte existiert, hat sie einen künstlerischen Wert wie kaum etwas anderes in der Welt der Musik. Ein Komponist ersten Ranges, Arnold Sch önberg, hat einmal gesagt: Es scheint, als ob die Neunte die Grenze wäre. Derjenige, der sie überschreiten will, ist dazu verurteilt, zu sterben. Es ist, als berge die Zehnte etwas, das wir nicht erfahren dürfen, weil wir noch nicht bereit dazu sind. « »Noch einer also, der daran glaubte. Es klingt unheimlich. Eine

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