Die 10. Symphonie
demütigen. Auf diese Weise rächen sie sich für die Verletzungen, die ihnen die Gesellschaft ihrer Ansicht nach zugefügt hat. Es sind Personen, die, meist während ihrer Kindheit, Zeugen ähnlicher Gewaltakte und Herabsetzungen waren oder diese sogar am eigenen Leib erfahren mussten. Sie töten völlig beliebig, als Vergeltungsmaßnahme und um ihr Selbstwertgefühl zu steigern, daher sind sie im Allgemeinen sehr gut in ihrer unseligen Arbeit . Thomas' Mörder gehört nicht zu ihnen. Also suchen wir nach einem anderen Motiv.«
Die Richterin hatte den Satz kaum beendet, da klingelte ihr Telefon. Beide l ächelten. Sie schaute auf das Display, um zu sehen, wer der Anrufer war, und drückte ihn weg. Daniel fühlte sich sehr wichtig.
»Dieses Fragment von Beethoven, das bei Marañón am Abend des Mordes gespielt wurde, was ist das genau?« Daniel klärte sie auf und fügte hinzu: »Es ist merkwürdig, aber ich habe immer mehr das Gefühl, dass das, was Thomas in jener Nacht gespielt hat, keine Rekonstruktion auf der Grundlage der von Beethoven hinterlassenen Motive war. Ich glaube eher, dass Thomas Zugang zum eigentlichen Manuskript der Zehnten hatte, oder zumindest zum ersten Satz, und dass keine einzige Idee, nicht einmal die Orchestrierung, seiner Feder entstammt. Das klang einfach alles zu sehr nach Beethoven.«
»Aber was für ein Interesse hätte er daran haben können ...?«
»Zunächst einmal: Autorenrechte«, fiel ihr Daniel ins Wort. »Stell dir vor, Thomas' Werk findet bei Orchestern überall auf der Welt Anklang, und es wird Mode, den ersten Satz der zehnten Symphonie von Beethoven/Thomas aufzuführen, als wären die beiden das Lennon/McCartney-Duo der klassischen Musik.«
»Kommt so etwas vor? Ich meine, dass ein unvollendetes Stück ins Repertoire aufgenommen wird?« »Das geschieht durchaus. Kennst du Schuberts Unvollendete?«
»Mit Musik habe ich nichts am Hut. Ich fürchte, ich bin ziemlich unmusikalisch.«
Daniel hatte die Leute immer bedauert, die glaubten, keinen Sinn f ür Musik zu haben, und sich deshalb um das Vergnügen brachten, welche zu hören. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass die meisten dieser Menschen mit ein wenig Vorbereitung nicht nur ein gutes Konzert genie ßen konnten, sondern sogar in der Lage waren, ein Musikinstrument auf einem annehmbaren Niveau zu spielen. »Die Unvollendete wird sehr häufig gespielt, auch wenn sie, wie der Name sagt, Fragment geblieben ist. Es gibt nur ein Allegro und ein Andante.« »Dieser Schumann starb sehr früh, nicht?« »Schubert. Schumann war etwas später. Aber du hast recht. Doch es ist anders als bei Beethoven. Ihn hat wahrscheinlich wirklich der Tod daran gehindert, die Zehnte zu vollenden. Schubert dagegen gab die Achte mittendrin auf und fing an, die Neunte zu komponieren, die er dann auch zu Ende brachte.«
Die Richterin bestellte noch einen Kamillentee, und Daniel folgte ihrem Beispiel. Er hatte, wie es f ür ihn typisch war, über seinen Ausführungen zu Schubert den Faden völlig verloren, doch Dona Susana lenkte das Gespräch zurück in eine für die Ermittlungen erhellendere Richtung.
»Nehmen wir an, dein Gespür ist richtig: Aus welchen Gründen hätte Thomas mutmaßlich noch verheimlichen wollen, dass die Partitur vollständig von Beethoven war?« »Eitelkeit, natürlich«, antwortete Daniel. »Aber eben hast du gesagt, dass die Motive des Konzertes gestern Abend von Beethoven waren. Das sind doch die Melodien, wenn ich das mit meinem Laienverstand so sagen darf - oder? Sind sie nicht das Wichtigste?« »Im Fall von Beethoven, nein. Das Geniale bei ihm ist, dass er, ausgehend von sehr kleinen musikalischen Blöcken, die man sich vorstellen kann wie Legosteine, beeindruckende musikalische Gerüste errichten kann. Denk nur an die f ünfte Symphonie, zum Beispiel: Der erste Satz ist die berühmteste Klangkathedrale aller Zeiten, und die basiert auf einem Motiv aus nur vier Noten! Thomas hatte vielleicht die Motive bei der Hand, aber wenn nicht ein Genie wie Beethoven etwas aus ihnen macht, sind sie nichts. Wenn ich ganz ehrlich bin, sind sie banal, jeder könnte sie sich ausdenken. Und es gibt natürlich noch einen dritten Grund. Vielleicht hat Thomas nicht zugegeben, dass er das Manuskript hatte, weil er es nicht durfte.«
»Weil es gestohlen war?«
»Du sagst es. Wenn ich in deinem Haus einen Schatz finde und ihn mitnehmen will, wirst du mit Recht sagen: Entschuldige mal, aber der Schatz gehört mir.« »Angenommen,
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