Die 10. Symphonie
verbotene Schwelle, wie die Türen in König Blaubarts Schloss.«
»Ich finde es auch unheimlich. So wie Schönberg es ausdrückt, kann man geradezu froh sein, dass der Herr Beethoven zu sich gerufen hat, bevor dieser seine Zehnte beenden konnte. Sie zu hören, scheint Schönberg sagen zu wollen, könnte uns möglicherweise so erschrecken, wie es Oscar Wildes Dorian Gray beim Anblick seines entsetzlichen, fratzenhaften Abbilds widerfahren ist. Zehnte Symphonien sind vielleicht dazu bestimmt, uns derart wilde und monströse Facetten der menschlichen Seele zu offenbaren, dass Gott uns dieses schreckliche Wissen bisher lieber erspart hat.«
»Bist du denn gläubig?«, fragte die Richterin, die sich die Lippen am gerade servierten Kamillentee verbrannt hatte. »Da geht es mir wie mit dem Aberglauben: Zu meinem Bedauern bin ich Agnostiker.«
»Trotzdem hast du gerade gesagt, dass Gott uns schont. Erkennst du damit nicht seine Existenz an?« Daniel schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich kann nicht an einen Gott glauben, der uns wie Kleinkinder behandelt. Und ich will nicht an ihn glauben, wenn er Beethovens Lebenslicht löscht, weil dieser kurz davor ist, mit Hilfe der Musik Wissen über die menschliche Seele zu vermitteln, von dem er glaubt, wir könnten es nicht verkraften. Lieber Gott, lass mich entscheiden, was ich verkraften kann und was nicht! «
Eine Zigeunerin war in das Cafe geschlichen gekommen und n äherte sich ihnen, um Lose zu verkaufen. Daniel und die Richterin lehnten ab, doch sie ließ nicht locker, bis der Kellner sie schließlich bemerkte und sie fest am Arm packte, um sie hinauszuwerfen. Die Zigeunerin entwand sich jedoch wütend seinem Griff, baute sich vor ihm und den beiden anderen auf und stieß finsterste Verwünschungen aus:
»Verflucht seien eure Körper. Gebe Gott, dass ihr in Henkershände fallt und wie Schlangen kriechen müsst. Mögt ihr Hungers sterben, mögen böse Krähen euch die Augen aushacken und die Hunde euch verschlingen. Möge unser Herr Jesus Christus eine hartnäckige Räude über euch kommen lassen und tausend Teufel euch mit Leib und Seele in die Hölle holen!«
Daniel reagierte besonnen: »Na gut, dann geben Sie mir eben ein Los, wenn Sie sich so aufregen.« Doch die Zigeunerin hatte schon kehrtgemacht und hörte seine Worte nicht mehr.
»Solange es Frauen wie diese gibt, braucht keiner den Fluch der Neunten«, seufzte Dona Susana. Doch Daniel merkte ihr an, dass sie das Gehörte kein bisschen lustig fand. Sie schaute auf die Uhr und stellte fest, dass sie sich viel länger als geplant aufgehalten hatte. »In einer knappen Stunde habe ich eine Verhandlung. Aber sag mir eben noch, wie du den künstlerischen Wert der Zehnten nun genau einschätzt.«
»Wenn ich nach dem einen Satz gehe, den ich an dem Abend gehört habe, glaube ich, dass die Zehnte noch avantgardistischer und revolutionärer wäre als ihre Vor g ängerin. Sie könnte das radikalste Werk des großartigsten Komponisten der Geschichte sein. Ein gewaltiger Vorläufer der Atonalität, ein wilder, verzweifelter Aufruf, mit allen bisher hochgehaltenen künstlerischen Konventionen zu brechen.«
Die Richterin hob die Brauen. »Hm. Starke Worte, über die ich nachdenken werde. Jetzt jedenfalls muss ich gehen. Später ruft Pilar, unsere Sekretärin, dich an und sagt dir, wann genau du im Labor erscheinen sollst, um den Kopf zu begutachten.«
Als die Richterin gegangen war und ihn mit seinem Kamillentee allein gelassen hatte, bemerkte Daniel auf einmal, dass sein Handy verschwunden war.
16
Zur selben Zeit lief Doktor Otto Werner, Chefveterin är der Spanischen Hofreitschule und stellvertretender Direktor dieser ehrwürdigen Institution, dem blinden Touristenführer Jake Malinak über den Weg und fragte ohne Umschweife: »Jake, wie war das Brendel-Konzert letzte Woche?«
Der Angesprochene erkannte Doktor Werners Stimme sofort - schlie ßlich war er einer derjenigen gewesen, die seine Anstellung an der Schule von Anfang an unterstützt hatten. »Beeindruckend. Du weißt schon, sehr schwer, sehr verkopft das Ganze. Aber so gefällt mir Beethoven.« »Vor ein paar Tagen wollte ich dich sprechen, aber du bist mir entschlüpft wie ein Aal. Hast du gerade eine Minute Zeit?«
»Um Viertel nach zwölf habe ich eine Gruppe von dreißig Mann, aber jetzt habe ich nichts Besonderes zu tun. Ich hatte sowieso vor, in der Cafeteria einen Kleinen Braunen zu trinken ...«
»In der Cafeteria? Bist du lebensmüde? Komm mit in
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