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Die 10. Symphonie

Die 10. Symphonie

Titel: Die 10. Symphonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Gelinek
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verschlüsseln, dass ich lieber keine Theorie aufstelle, bis ich die Noten gr ündlicher studiert habe.«
    »Ein Code, sagst du? Wie die Kombination eines Tresors zum Beispiel?«, fragte die Richterin. »Es könnte auch ein Text sein. Ein Gedicht, zum Beispiel. Ich stelle besser keine Vermutungen an, bevor ich nicht eine vollständigere Analyse vorgenommen habe.« Der Gerichtsmediziner machte einige Polaroidaufnahmen von der Tätowierung, prüfte die Schnappschüsse auf Überbelichtung und gab sie dem Musikwissenschaftler. Als sie auf die Straße traten, waren alle drei gedrückter Stimmung. Sie verabschiedeten sich rasch und ohne große Worte. Daniel musste sein Hemd zweimal in die Waschmaschine stecken, bevor der Übelkeit erregende Geruch verschwand, den es im Obduktionssaal angenommen hatte.

19
    Am Abend nach der schaurigen Begutachtung von Thomas' Kopf lud Daniel Alicia zum Abendessen in die Trattoria Corleone ein, seit Jahren ihr Lieblingsitaliener - trotz der in letzter Zeit unversch ämt gestiegenen Preise.
    Enzo, der Oberkellner, geleitete sie zu dem Tisch, an dem sie immer sa ßen. Mit den Speisekarten brachte er ihnen Parmesanwürfel und Grissini zum Knabbern. »Wann geht dein Flugzeug morgen?«, fragte Daniel, während er völlig unnötigerweise in die Karte schaute, da er ohnehin jedes Mal das Gleiche bestellte: Lumaconi rigati al tartufo.
    »Um sieben. Ich muss um sechs Uhr am Flughafen sein.« »Das heißt, ich muss früh aufstehen.« »Du brauchst mich nicht zu bringen. Ich kann mit dem Taxi fahren.«
    »Mit dem Taxi? Ich bitte dich. Glaubst du, ich lasse die Mutter meines Kindes mit dem Taxi zum Flughafen fahren?«
    »Fang nicht schon wieder an.«
    Daniels eben noch so charmanter Tonfall wich pl ötzlich einem härteren.
    »Was heißt das: Fang nicht schon wieder an ? Du bist schwanger, und ich finde das wunderbar. Wieso machen wir jetzt ein Drama aus etwas, das f ür uns beide ein Quell unendlicher Freude sein könnte?«
    »Seit wann willst du denn unbedingt ein Kind? Wie lange sind wir jetzt zusammen? Drei Jahre? Wir reden zum ersten Mal überhaupt darüber, Kinder in die Welt zu setzen.« »Es ist nicht so, dass ich theoretisch Kinder will, ich will genau dieses eine Kind, mit genau dieser einen Frau, und das bist du. Stimmt schon, dass ich mich nicht damit beschäftigt habe, bis du gesagt hast, du seiest schwanger. Aber das heißt nicht, dass mein Wunsch bloß eine Laune ist. Ich fände es phantastisch, ein Kind mit dir zu haben.« Enzo kam mit Kugelschreiber und Notizblock in der Hand an den Tisch. »Haben Sie schon gewählt?« »Ich nehme die Lumaconi.«
    Der Oberkellner schmunzelte. »Wir haben zehn weitere Sorten Pasta auf der Karte. Außerdem gibt es Pizza aus dem forno di legna.«
    »Ich weiß. Aber ich habe Lust auf Lumaconi.« »Dann erlauben Sie mir wenigstens, Ihnen eine andere Soße vorzuschlagen: Wie wäre es mit Pecorino statt Trüffeln?«
    »Also gut. Aber wenn es mir nicht schmeckt, lass ich es zurückgehen, und Sie bringen mir die Nudeln mit Trüffelsoße!«
    »Und was darf ich der Signorina bringen?«, fragte der Oberkellner.
    »Ich nehme das Gleiche.«
    »Das Gleiche? Bestell doch lieber etwas anderes, dann können wir uns beides teilen.«
    »Entscheidest du jetzt etwa auch, was ich zu essen habe?« »Nein, Alicia, das tue ich nicht. Also gut, Enzo, es bleibt dabei: zweimal Lumaconi al Pecorino.«
    Enzo, der merkte, dass hier ein Unwetter heraufzog, entfernte sich eilig vom Tisch. Daniel und Alicia schwiegen eine Weile. Keiner der beiden wollte ihr Abschiedsessen mit einem Streit verderben, doch ihre Nerven waren gespannt. Daniel war es, der schlie ßlich das Schweigen brach: »Schau, wenn du es nicht bekommen willst...« »Ich habe nicht gesagt, dass ich es nicht bekommen will. Aber du gehst so sorglos, so leichtfertig mit diesem Thema um, dass es mir Angst macht. Als ob du dir der Verantwortung überhaupt nicht bewusst wärst, die so ein Kind mit sich bringt.«
    »Finanzielle Sorgen werden wir nicht haben. Bei dir läuft es doch fabelhaft.«
    Er hatte recht. Das ausgezeichnete Gehaltsangebot, das Alicia von ihrer Firma erhalten hatte, war der Hauptgrund, dass sie eingewilligt hatte, f ür eine ganze Weile nach Frankreich ins berufliche Exil zu gehen. Hinzu war aber auch die unbestreitbare, von beiden anerkannte Tatsache gekommen, dass sie ein wenig Abstand benötigten, damit sich das wunderschöne Gefühl gegenseitiger Sehnsucht wieder einmal einstellen konnte. »Hast du

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