Die 10. Symphonie
ihn zu lesen, musste der Empfänger dem Sklaven den Kopf rasieren. In unserem Fall überschneiden sich zwei Bereiche: Kryptographie und Steganographie.«
Pontones machte eine Pause, um eine Nachfrage Daniels zu provozieren, die auch prompt kam: »Was Kryptographie ist, weiß ich, glaube ich. Und Steganographie hat irgendetwas mit Schnellschreiben zu tun, oder?«
»Nein, Sie meinen Stenographie, auch Tachygraphie genannt. Hier geht es aber um Kryptographie und Steganographie. Die erste Disziplin bringt Nachrichten in eine andere Ordnung und codiert sie, um sie für einen nicht eingeweihten Empfänger unverständlich zu machen. Die zweite beschränkt sich darauf, den Text so zu tarnen, dass eine Verschlüsselung nicht mehr nötig ist. Hier hat man sich jedoch nicht damit begnügt, die Information unter dem Haar zu verstecken, sondern sie wurde zusätzlich als Notentext chiffriert. Das ist zumindest meine bescheidene Meinung. Offensichtlich ist die Nachricht sehr wichtig, wenn ihr Sender sich solche Mühe gegeben hat, dass niemand außer dem Empfänger sie lesen kann. Die Frau Richterin sagte mir, Sie seien ihr Sachverständiger für Musik. Also, schießen Sie los: Was sind das für Noten?« Daniel bot sich folgender Anblick auf Thomas' Kopf:
»Wie seltsam«, sagte er. »Das Thema kommt mir irgendwie bekannt vor, aber auf die Schnelle fällt mir nicht ein, was es sein könnte.«
»Ist es möglich, dass es sich um eine Komposition von Thomas handelt?«, fragte die Richterin. »Ich glaube eher nicht«, antwortete Daniel. Er versuchte die Melodie zu erkennen, indem er sie mit leiser Stimme vor sich hin sang. »Es ist etwas, das ich kenne, ganz sicher, aber es erscheint mir irgendwie verzerrt. Ah, ich glaube, ich weiß, was los ist: Die Noten und der Rhythmus passen nicht zusammen.« »Was meinen Sie damit?«
»Jetzt kann ich es zuordnen: Es ist das Hauptthema von Beethovens Kaiserkonzert, dem vielleicht berühmtesten Klavierkonzert aller Zeiten. Die Tonart ist Es-Dur, das sieht man an den drei kleinen B, den Vorzeichen. Auch der Takt ist dort angegeben, das sind die zwei kleinen Vieren vor den Noten. Der Rhythmus dieses Stücks ist aber nicht der ursprüngliche, nur die Töne stimmen. Hat jemand Zettel und Stift?«
Die Richterin gab Daniel beides, und er zeichnete ein Liniensystem, in das er folgende Noten schrieb:
Dann sagte er: »Dies ist das Originalthema des Kaiserkonzerts. Falls Sie keine Noten lesen können - es klingt ungefähr so.«
Daniel begann zu summen. Die Richterin und der Mediziner l ächelten. Sie hatten Beethovens Musik sofort erkannt.
»Wie Sie sehen, stimmt es absolut nicht mit dem überein, was in den Kopf tätowiert wurde, denn das beginnt mit vier Sechzehnteln und einer Achtel, also vier kurzen Noten und einer längeren. Im Originalrhythmus fängt es mit einer langen Note an, einer Halben, an die eine Achtel gebunden ist, dann folgen eine Triole und zwei Achtel.«
»Und weshalb hat man das gemacht?«, fragte die Richterin, die Daniels Erklärungen nur noch mehr verwirrten. »Vielleicht, um die Nachricht noch besser zu tarnen. Man wollte verhindern, dass es allzu leicht als das Kaiserkonzert identifiziert werden konnte.«
»Aber Sie haben es ohne Mühe erkannt«, sagte die Richterin.
»Na ja, Beethoven ist ja auch seit Jahren mein Spezialgebiet«, antwortete Daniel mit einem Hauch von Bildungsstolz in der Stimme.
Sie wurden durch zwei Gerichtsmediziner unterbrochen, die im Saal nebenan die Obduktion durchgef ührt hatten und deren Arbeitstag nun zu Ende war. Ihren spöttischen Blicken war zu entnehmen, dass sie mit Pontones in einer Art beruflichem Wettstreit lagen und ihm gerne einen bissigen Kommentar aufgedrückt hätten. Doch die Anwesenheit der Richterin und auch Daniels hinderte sie daran, großes Geschütz aufzufahren.
»Also, Felipe, wir gehen. Wenn du noch bleiben möchtest - wir hätten hier noch einen.«
»Sehr witzig«, antwortete Pontones. »Aber wenn ich euch nachher beim Sudoku helfen soll, steht ihr wieder auf der Matte.«
Die beiden M änner gingen, und Pontones sagte zur Entschuldigung: »Sie machen ständig dumme Bemerkungen. Das ist ihre Art, den Stress zu bewältigen.« Die Richterin steckte die Noten, die Daniel gezeichnet hatte, in ihre Handtasche und fragte: »Irgendeine Idee, was die Tätowierung bedeuten könnte?« »Das Notensystem muss eine Art Code sein«, vermutete Daniel. »Doch es gibt so viele Möglichkeiten, eine Nachricht mit Hilfe von Noten zu
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