Die 10. Symphonie
ganz genauso: Diese Musik war durch und durch Beethovens. Ich gerate nicht so leicht ins Schw ärmen, aber dieses Konzert war überwältigend. Es hat uns alle in seinen Bann geschlagen, nicht wahr?« »Sie haben vollkommen recht. Und ich muss zugeben, dass ich zu demselben Schluss gekommen bin, was den Ursprung des Werks anbelangt.«
»Gerade haben Sie doch noch behauptet, es sei eine bemerkenswerte Rekonstruktion!«
»Das habe ich nur gesagt, weil ich nicht gewagt habe, meine Zweifel auszusprechen. Ich kann nichts beweisen. Um sicher zu sein, brauchte ich die Partitur oder eine Aufnahme des Konzerts.«
»Wir sind hier en petit comité, mein Lieber. Was hat Sie zu der Annahme geführt, die Musik müsse von Beethoven sein?«
»Der große Leonard Bernstein sagte einmal über Beethovens Musik, was sie so außergewöhnlich mache, sei der Eindruck von Konsequenz . Er meint damit dieses Gefühl, dass auf eine musikalische Phrase nur eine ganz bestimmte andere folgen kann, und dass jede Dissonanz nur mit einem Akkord aufgelöst werden kann, nur einem einzigen. Beethoven hat seine Mittel immer sehr sparsam eingesetzt und war ständig damit beschäftigt, jede überflüssige Passage aus seinen Kompositionen zu streichen. Das ist es zweifellos, was der Hörer als Konsequenz wahrnimmt - nämlich das Gefühl, dass jedes einzelne Element der Komposition unentbehrlich ist. Nun, und genau so verhält es sich mit dem Fragment aus der zehnten Symphonie.«
»Recht hat der Maestro Bernstein! Aber zurück zu Thomas und seiner Tätowierung. Anders als die Polizei glaube ich nicht, dass es eine Botschaft ist.«
»Sondern?«
»Meiner Meinung nach haben wir hier keinen Fall, wie ihn Herodot erzählt, in dem der tätowierte Sklave ein von Histiaios gesandter Bote war. Thomas hat zwar Herodots Idee übernommen, die Tätowierung unter seinem Haar zu verstecken, aber ich glaube, es handelt sich eher um eine Merkhilfe.«
»Eine Merkhilfe? Wofür?«
»Für die Stelle, an der sich das Manuskript der Zehnten befindet.«
»So eine Art Schatzkarte?«
»Ja, davon gehe ich aus. Sehr wahrscheinlich weisen diese Noten den Weg zu der Partitur. Thomas konnte sich den Luxus erlauben, die Karte mit sich zu führen, weil sie versteckt und verschlüsselt war.«
Marañón wagte sich weit vor, fand Daniel. »Sind das alles nicht einfach nur Vermutungen?«
»Sie haben gerade Bernstein zitiert. Erlauben Sie mir, einen anderen Musiker anzuführen, wenn er auch nur Amateur war: Sherlock Holmes spielte in seiner Freizeit Geige. Er pflegte zu Watson zu sagen: Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss alles, was übrig bleibt, und sei es auch noch so unwahrscheinlich, die Wahrheit sein.« »Das stimmt, aber er hielt es auch für leichtfertig, Hypothesen ohne genügend Beweise aufzustellen!« »Thomas war sehr zerstreut. Am Konzerttag hat er zum Beispiel seinen Taktstock vergessen. Und es ist naheliegend, dass man sich etwas Wichtiges, das man auf keinen Fall vergessen darf, notiert. Um die Notiz dann immer in Reichweite zu haben. Wissen Sie, wo ich die Kombination meines Tresors aufbewahre? In einem Buch aus meiner Bibliothek - wo sich auch der Tresor befindet!«
»So? Welches Buch ist es denn?«, fragte Daniel scherzhaft.
»Das weiß ich leider nicht mehr«, gab Marañón zurück. »Daran ist dieser Deutsche schuld.« »Welcher Deutsche?« »Na, Alzheimer.«
Marañón beendete sein Fitnesstraining und bat Daniel, ihn ein Stockwerk nach oben zu begleiten, wo er ihm einen Kaffee anbieten wollte. Zu dessen Erstaunen fuhren sie diese kurze Strecke mit einem hypermodernen Aufzug. »Falls ich mir eines Tages auf dem Laufband den Fuß verstauche«, erklärte Marañón wie zur Entschuldigung. Daniel sah auf die Uhr, und sein Gastgeber reagierte sofort.
»Wenn Sie zu tun haben, können wir uns an einem anderen Tag weiter unterhaken.«
»Nein, ich habe einen Kollegen gebeten, mich zu vertreten. Aber mein Seminar fängt gerade an, deshalb schaue ich wohl um diese Zeit reflexartig auf die Uhr.« Sie gingen in einen kleinen, sehr behaglichen Salon. Dort sollte Daniel auf Marañón warten.
»Ich dusche eben, in drei Minuten bin ich wieder unten. Gisela bringt Ihnen zu trinken, was Sie wollen.« Wie aus dem Nichts erschien die brasilianische Haushälterin, als ihr Name fiel, und fragte Daniel nach seinen Wünschen. Er wollte gerade um eine Cola light bitten, da klingelte sein Handy.
»Daniel? Ich bin es, Bianca. Ich weiß nicht, was du verbrochen hast,
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