Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die 10. Symphonie

Die 10. Symphonie

Titel: Die 10. Symphonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Gelinek
Vom Netzwerk:
sich erst wieder an den Ruhezustand gewöhnen. Dann trocknete er sich mit einem Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht und gab Daniel auf eine ungewöhnliche Weise die Hand: Er drückte leicht mit dem Daumen auf das unterste Gelenk seines Zeigefingers. Daniel sagte nichts, aber sein Blick fiel gleichzeitig auf einen Ring mit auffälligem Siegel, den der Millionär an dieser Hand trug.
    Marañón bemerkte, dass der Ring Daniels Aufmerksamkeit geweckt hatte, und zog ihn sich vom Finger, damit er ihn aus der Nähe betrachten konnte. »Das ist das Wappen des alten Königreichs Schottland. Im Gegensatz zu Beethoven, über den wir hoffentlich gleich noch ausführlich sprechen, bin ich tatsächlich adeliger Herkunft. Meine Mutter ist eine Stuart. Sehen Sie den Sinnspruch unseres Clans? Nemo me impune lacessit, Niemand reizt mich ungestraft! Oder, was dasselbe ist: Wie du mir, so ich dir.«
    »Wenn das so ist, hoffe ich, Sie nie zum Feind zu haben«, sagte Daniel und verbarg seine Unsicherheit hinter einem Lächeln.
    »Ganz im Gegenteil - Sie und ich, wir werden noch richtig gute Freunde. Aber nun kommen Sie mit hinüber zu den Gewichten und erzählen Sie mir etwas über das Kaiserkonzert.«
    »Mit Vergnügen«, antwortete Daniel. »Ich würde Sie allerdings auch gerne um einen Gefallen bitten.«
    »Es gibt wenig, das ich für einen Freund nicht tun würde. Wie kann ich Ihnen helfen?«
    »Könnten Sie mir eine Partitur oder eine Aufnahme des Konzerts zur Verfügung stellen, das Thomas hier vor seinem Tod gespielt hat?«
    Marañón , der sich nach einem Paar Hanteln gebückt hatte, richtete sich unvermittelt auf und starrte Daniel an, als wollte er dessen Gedanken erraten. »Aus beruflichem Interesse?« »Wie meinen Sie das?«
    »Durán hat mir erzählt, dass Sie an einer Abhandlung über Beethoven schreiben.«
    Daniel war sich nicht sicher, ob er seine Vermutungen über das Konzert offen vor Marañón äußern sollte, daher wich er der Frage aus.
    »Thomas' Rekonstruktion ist sehr interessant. Und natürlich sehr mutig, denn er hatte viel weniger Material zur Verfügung als seine Kollegen. Ich spreche von Leuten wie Deryck Cooke, der Mahlers Zehnte fertiggestellt hat, oder Wolfgang Graeser, der Bachs Kunst der Fuge bearbeitet hat. Nicht zu vergessen die hervorragende Arbeit von Glasunow, der Borodins Dritte vollendete.« Marañón hörte ihm schweigend zu und absolvierte sein Training. Doch sein leicht hinterlistiger Gesichtsausdruck sagte Daniel, dass er die Katze noch nicht aus dem Sack gelassen hatte.
    »Gleich können wir gerne über die Besonderheiten von Thomas' Werk sprechen«, sagte der Millionär, Spott in der Stimme. »Vorher beantworte ich Ihnen aber noch Ihre Frage: Nein, ich habe keine Partitur des Stücks, und da Thomas mich ausdrücklich gebeten hat, keine Aufnahme zu machen, kann ich auch damit nicht dienen.«
    »Das ist schade«, bedauerte Daniel niedergeschlagen. »Also gut, was wollten Sie über das Kaiserkonzert wissen?«
    Marañón schien die Frage nicht gehört zu haben.»Daniel, ich habe Thomas' Partitur nicht gesehen, aber ich kenne die fünfzig Fragmente von Beethoven, die er als Grundlage für die Rekonstruktion des ersten Satzes verwendet hat. Abgesehen davon, dass es keine Möglichkeit gibt, herauszufinden, ob sie alle für dieselbe Symphonie bestimmt waren, sind manche bloßes Gekritzel, nur karge Notenlinien, in die weder der Notenschlüssel noch die Tonart noch irgendein Rhythmus eingetragen sind.« »Ich habe ja gesagt, dass mir Thomas' Arbeit eben aus diesem Grund großen Respekt einflößt.« »Thomas' Arbeit ist eine Mogelpackung!«, widersprach Marañón heftig. »Ein mittelmäßiger Komponist wie er könnte nie mit nur einer Handvoll Entwürfe ein solch erhabenes Werk schaffen, wie wir es an jenem Abend gehört haben.«
    Statt die Hanteln sanft auf dem Boden abzusetzen, lie ß er sie krachend fallen, als ob ihn plötzlich eine gewaltige Wut gepackt hätte. Dann setzte er sich auf eine Hantelbank. »Was Thomas an dem Tag gespielt hat, war das Original: der erste Satz von Beethovens zehnter Symphonie.« »Hat er das offen zugegeben?«
    »Natürlich nicht. Er hat bis zum Ende behauptet, der größte Teil der Musik sei allein sein Werk. Aber ich habe Nachforschungen angestellt über Thomas' kompositorische Fehlschläge. Das alles kann mit seinen Erfolgen als Musikwissenschaftler und Dirigent nicht mithalten. Und noch dazu lässt mich mein Gespür selten im Stich. Mein Bauchgefühl sagt mir

Weitere Kostenlose Bücher