Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland
sprengen und hatten die Passagiere mit Alkohol übergossen,damit sie sofort in Flammen aufgingen, wenn die Handgranaten gezündet wurden. Den Piloten hatten die Terroristen bereits ermordet. Die Bundesregierung schickte Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski (SPD), der über gute Kontakte zur Dritten Welt verfügte, nach Mogadischu in Somalia, wo das Flugzeug nach einem Irrflug schließlich gelandet war. Ein Spezialkommando des Bundesgrenzschutzes (GSG 9) konnte die Passagiere der «Landshut» befreien, vier von fünf Entführern wurden dabei getötet. In einer letzten Verzweiflungstat begingen die in Stammheim einsitzenden Terroristen Selbstmord, der jedoch nach Mord aussehen sollte – sie wollten sich als Märtyrer stilisieren und hofften, so eine weitere Eskalation erreichen zu können. Am Tag nach den Selbsttötungen fand man die Leiche von Hanns-Martin Schleyer im Kofferraum eines Autos im elsässischen Mühlhausen.
In diesem «deutschen Herbst» des Jahres 1977 hatte die Bundesrepublik ihre schwerste Bewährungsprobe zu überstehen. Viele, vor allem ausländische Beobachter, sahen die Demokratie in größter Gefahr. Doch mit ihrer harten, riskanten Linie brachte die Regierung Schmidt der RAF in diesem Herbst die entscheidende Niederlage bei – und gleichzeitig gab es, trotz der Antiterror-Gesetze, nicht den befürchteten «Marsch in den Polizeistaat». Aus der CSU kamen vereinzelt zwar bedenkliche Vorschläge, so etwa derjenige einer «bedingten Todesstrafe», die dann zu vollstrecken sei, wenn jemand versuchte, den Verurteilten durch Geiselnahme aus der Haft freizupressen. Das wäre Staatsterror gegen Individualterror gewesen. Doch dies blieben Ausnahmen, die meisten politisch Verantwortlichen behielten einen kühlen Kopf; sie gingen bis an die Grenzen des Rechtsstaates, überschritten diese Grenzen aber nicht. Dies hat letztlich die Demokratie gestärkt.
Wie ging es mit den Terroristen, in deren Reihen auffallend viele Frauen vertreten waren, weiter? Eine dritte und vierte Generation erhob noch ihr Haupt, und die politischen Morde erstreckten sich bis in die 1990er Jahre. 1998 kam es zur Selbstauflösung der Gruppe; im «Auflösungsschreiben» vom April hieß es: «Vor fast 28 Jahren am 14. Mai 1970 entstand in einer Befreiungsaktion die RAF. Heute beenden wir dieses Projekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte.» Kein Wort des Bedauerns! 37 Menschen fielen den Aktionen der RAF und anderer linksterroristischen Organisationen zum Opfer, 27 Terroristen kamen ums Leben, 230 Menschen erlitten Verletzungen,es war etwa 500 Millionen D-Mark Sachschaden zu bilanzieren, 1000 Urteile ergingen, die Ermittlungsakten umfassten elf Millionen Seiten, dies entspricht dreimal dem Weg von Flensburg zur Zugspitze. Besonders pikant war die RAF-Stasi-Connection, die seit den 70er Jahren bestand. RAF-Aussteiger, die dem Fahndungsdruck in der Bundesrepublik nicht mehr standhielten, reisten 1982 in die DDR, wo sie sich eine biedere Existenz aufbauten. Mit dem Untergang der DDR wurde diese Camouflage aufgedeckt, alle zehn untergetauchten RAF-Mitglieder konnten festgenommen und verurteilt werden.
15. Gab es unter Helmut Kohl eine «geistig-moralische Wende»? Helmut Kohl hatte in seiner ersten Regierungserklärung am 13. Oktober 1982 den Bürgern eine «geistig-moralische Wende» versprochen. «Die Ideologien der Macher und Heilsbringer», so führte er aus, «haben den Wirklichkeitssinn im Lande nicht geschärft, die Selbstverantwortung nicht gestärkt und die geistigen Herausforderungen der Zeit verkannt. Wir brauchen wieder die Tugenden der Klugheit, des Mutes und des Maßes für die Zukunft unseres Landes. Die Frage der Zukunft lautet nicht, wie viel mehr der Staat für seine Bürger tun kann. Die Frage der Zukunft lautet, wie sich Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung neu entfalten können. Auf diese Idee gründet die Koalition der Mitte. Zu viele haben zu lange auf Kosten anderer gelebt: der Staat auf Kosten der Bürger, Bürger auf Kosten von Mitbürgern und – wir sollten es ehrlich sagen – wir alle auf Kosten der nachwachsenden Generationen.» Die neue Regierung erhob fortan die «Wende» zum Markenzeichen ihres Neuanfangs. Doch so neu war das Ansinnen nicht, denn jeder Regierungswechsel in der Bundesrepublik wurde rhetorisch mit einem Neubeginn untermalt, gemäß der Devise: leuchtend die Zukunft, dunkel die Vergangenheit. So düster wie Kohl vorgab waren die 1970er Jahre allerdings
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