Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland
keineswegs. «Klugheit», «Mut» und «Maß» hatten ja gerade auch Kohls Vorgänger ausgezeichnet; und ob die Zukunft mit dem ständigen Verweis auf die Vergangenheit, nämlich die Politik Adenauers und Erhards gewonnen werden konnte, durfte bezweifelt werden. Worauf zielten also die großen Worte der neuen Regierung? Sie sollte die wertkonservativen Schichten, die Zukunftsängste plagten, beruhigen, indem man ihnen versicherte, dass Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft zähmbar seien. Und der technokratischenElite flößte die Rede neuen Optimismus ein. Wie so häufig im Leben klaffte indessen zwischen Anspruch und Wirklichkeit ein tiefer Graben. Die ersten Regierungsjahre überschattete eine Serie von Affären, Skandalen und peinlichen Pannen.
16. Wieso sitzt der Deutsche Bundestag im Berliner Reichstag? Der Berliner Reichstag ist ein herausragendes Symbol der jüngeren deutschen Geschichte, das wie kaum ein zweites die Höhen und die Tiefen von Deutschlands Vergangenheit repräsentiert. 1884 wohnten Reichskanzler Otto von Bismarck und Kaiser Wilhelm I. der Grundsteinlegung des imposanten Gebäudes bei, das der Frankfurter Architekt Paul Wallot entworfen hatte. Als der Reichstag zehn Jahre später fertig gestellt wurde, bezeichnete ihn der neue, junge Kaiser Wilhelm II. als «Gipfel der Geschmacklosigkeit» – vermutlich galt dieses kaiserliche Verdikt nicht allein dem Gebäude, sondern mehr noch seinem Inhalt: dem Parlament. In der Monarchie blieb der Reichstag relativ unbeachtet, doch am 9. November 1918 wurde er zu einem national bedeutenden Symbol: An einem Fenster im Zeitschriftenlesesaal des Reichstages rief Philipp Scheidemann die erste deutsche Republik aus. In der Weimarer Republik war der Reichstag beides: Zentrum der Demokratie und Schimpf- und Hassobjekt der Republikfeinde. Den Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 nutzen die Nationalsozialisten dazu, das Parlament endgültig zu entmachten. Hitler ließ «seinen» Reichstag in der Kroll-Oper tagen. Daher kann das Reichstagsgebäude als nationalsozialistisch weitgehend «unbesetzt» gelten. Allerdings diente das Gebäude den Nazis für Propagandazwecke; so zeigten sie in ihm 1938/39 etwa die Ausstellung «Der ewige Jude».
Als die sowjetischen Truppen 1945 den Reichstag als Inbegriff der faschistischen Herrschaft eroberten, hatten sie es auf das falsche Objekt abgesehen. Das von dem Kriegsberichterstatter Jewgenij Chaldeij gemachte Foto vom 2. Mai 1945, welches einen Rotarmisten beim Hissen der roten Fahne auf dem südöstlichen Eckturm zeigt, fand weltweite Verbreitung. Dieses Foto wurde zur Ikone des sowjetischen Sieges über Hitler-Deutschland. Nach 1948 war Berlin die Frontstadt des Kalten Krieges, und am 3. Oktober 1990 wurde vor dem Reichstag feierlich die deutsche Einheit vollzogen. Erneut riefen die Bilder der Feier in Erinnerung, dass der Reichstag eine Mischung aus Glanz und Tragik, Hoffnung und Scheitern darstellte.
«Hauptstadt Deutschlands ist Berlin. Die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung wird nach der Herstellung der Einheit Deutschlands entschieden», so lautet die Passage im Einigungsvertrag vom September 1990. Diesem lapidaren Satz folgte eine heftige Debatte über Bonn oder Berlin als Parlaments- und Regierungssitz. Seit den 1950er Jahren hatten nahezu alle westdeutschen Politiker betont, dass Berlin zweifellos die natürliche Hauptstadt eines dereinst wiedervereinigten Deutschlands sei. Sie meinten damit zugleich auch den Sitz von Parlament und Regierung. Dass man eine Hauptstadt davon trennen könnte – auf diese Spitzfindigkeit kam man damals nicht. Für Berlin sprachen die Tradition und das Symbol. Aber hehre Worte zur Zeit der deutschen Teilung waren das eine. In der Wirklichkeit von 1990/91 fand man plötzlich andere Argumente: Legte Bonn nicht Zeugnis für die erfolgreiche Demokratie der Bundesrepublik ab? Stand es nicht für die Nähe zu Brüssel und damit zur Europäischen Union? Funktionierte hier nicht alles verwaltungstechnisch so vortrefflich? Hatte man nicht erst kürzlich, als niemand an die unverhoffte Einheit dachte, neue Gebäude errichtet? Und, so muss man hinzusetzen, auch wenn es keiner sagte: hatten nicht die meisten Abgeordneten ihr schönes Häuschen im Westen? Schwerer wog: Die Glaubwürdigkeit sprach für Berlin, auch die Zukunftsorientierung eines neuen Deutschlands. Und darüber hinaus würden wichtige Impulse für den Aufbau im Osten gesetzt. So könnte die
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