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Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland

Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland

Titel: Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Wolfrum
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«Trümmer» betrafennun gebrochene, kriegsversehrte oder sich in der Welt nicht mehr zurechtfindende Männer, zerrüttete Ehen, ruinierte Familien.
    Eine weitere Schicksalskategorie in der Nachkriegszeit war der «Flüchtling» oder «Heimatvertriebene». Diese Menschen kamen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, waren von der Roten Armee als gewaltige Menschenwelle vor sich hergetrieben worden, hatten häufig nicht nur die Heimat und allen Besitz verloren, sondern die schrecklichsten Erfahrungen von Tod und Vergewaltigung machen müssen. Von den 14 Millionen geflüchteten oder vertriebenen Deutschen starben mehr als zwei Millionen auf den Fluchtwegen nach Westen und von den überlebenden zwölf Millionen trafen acht Millionen in Westdeutschland und zunächst vier Millionen in Ostdeutschland ein, bevor viele sich weiter auf den Weg nach Westen machten. Ihre Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft verlief keineswegs so glatt, wie man in den 1950er Jahren glauben machen wollte, denn vor allem die psychischen Verletzungen blieben unsichtbar und konnten durch eine noch so ausgedehnte Sozialpolitik kaum gemildert werden. Zudem gab es nicht geringe Vorbehalte der einheimischen Bevölkerung gegen diese «Hitler-Deutschen», wie sie genannt wurden – als hätten sie alleine den Krieg zu verantworten gehabt. Zu den Flüchtlingen und Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten kam seit 1949 der Strom der DDR-Flüchtlinge hinzu. Um den Volksaufstand des 17. Juni 1953 herum stiegen die Fluchtzahlen gewaltig an; monatlich verließen etwa 20.000 Menschen den SED-Staat. Es waren vor allem junge Menschen, meist gut ausgebildete männliche Fachkräfte, die der DDR den Rücken kehrten. Die DDR war deshalb damals die weiblichste Gesellschaft nach Weißrussland in ganz Europa. Diese Abstimmung mit den Füßen gefährdete den Bestand des zweiten deutschen Staates – und ließ das Ulbricht-Regime zum Mauerbau schreiten. Im Jahr des Baus der Berliner Mauer, 1961, machten die Flüchtlinge und Vertriebenen aus den Ostgebieten rund zehn Millionen Menschen aus und die Zahl der DDR-Flüchtlinge hatte nahezu 3,5 Millionen Menschen erreicht. So gesehen waren fast ein Viertel der Bundesdeutschen «Neubürger».
    46. Gab es die «nivellierte Mittelstandsgesellschaft»? Zu den Begriffen, die Karriere gemacht haben und fast zu Zauberformeln geronnen sind, gehört sicherlich die «nivellierte Mittelstandsgesellschaft», die der Soziologe Helmut Schelsky in den 1950er Jahrenin der Bundesrepublik zu erkennen glaubte. Die dahinter stehende These besagte, dass der kollektive Aufstieg der Industriearbeiter sowie der Angestelltenschaft, gefördert durch die ausgedehnte Sozial- und Steuerpolitik, sich mit Abstiegsprozessen bessergestellter bürgerlicher Gruppen im Gefolge von wirtschaftlichen Krisen, Kriegsniederlage, Zerstörung und Vertreibung kreuzte. Dadurch würden Klassengegensätze abgebaut, und es komme zu einer sozialen Nivellierung in einer verhältnismäßig einheitlichen Gesellschaftsschicht, die weder proletarisch noch bürgerlich sei. Diese Nivellierung setze sich in einer Vereinheitlichung der sozialen und kulturellen Verhaltensformen in der Konsum- und Freizeitgesellschaft fort, etwa durch den Besitz eines Autos und anderer langlebiger Konsumgüter oder durch Urlaubsreisen.
    Ist dies mehr als eine schöne Sozialutopie? Einer der vehementesten Kritiker Schelskys war Ralf Dahrendorf, ebenfalls Soziologe, jung, aufstrebend und intellektuell brillant. Er meinte, Schelskys These einer Vereinheitlichung der sozialen und kulturellen Verhaltensformen sei nichts weiter als eine «optische Täuschung». Seine Argumente: Nicht jedes Auto gleiche dem anderen, nicht jeder Urlaubsort sei eben ein Urlaubsort und sonst nichts, und der Wunsch nach einem höheren Lebensstandard bedeute für den einfachen Arbeiter in der Industrie etwas anderes als für den Prokuristen einer Bank.
    Tatsächlich war die Vermögensverteilung in der Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren nach wie vor sehr ungleich und ebenso wiesen Einkommen, Prestige und Bildungschancen ganz erhebliche Unterschiede auf. All dies widersprach der These einer «nivellierten» Gesellschaft. Gegenüber dem Mittelstandsmodell bevorzugte Dahrendorf und bevorzugen auch viele heutige Soziologen das Modell der «Schichtungsgesellschaft». Dieses besagt, dass es Ungleichheit und ein Oben und Unten gebe, dass jedoch die Ungleichheit in der modernen Gesellschaft, anders als in der

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