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Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland

Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland

Titel: Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Wolfrum
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alten Klassengesellschaft, durch den prinzipiell offenen Weg nach oben über Bildung, Beruf und Leistung individuell überwindbar sei. Eine solche Offenheit kann als ein wichtiger Indikator für eine gelungene Modernisierung verstanden werden.
    Die neuere empirische Forschung hat allerdings noch einmal Wasser in diesen Wein geschüttet: Sie erkennt nur einen allmählichen Abbau von Schichtungsbarrieren im Sinne eines langen, bis in die Gegenwart reichenden Trends, und sie beurteilt die Situation in derfrühen Bundesrepublik sehr viel skeptischer als Schelsky und auch als Dahrendorf. Der Begriff der «nivellierten Mittelstandsgesellschaft» jedenfalls knüpfte ersichtlich an die Vorstellung von der sozialharmonischen «Volksgemeinschaft» an, die wenige Jahre zuvor noch als Leitbild des Nationalsozialismus fungiert und die Unterschiede und Konflikte einer modernen Gesellschaft geleugnet hatte. Bürgertum und Arbeiterschaft bzw. Angestelltenschaft trennte nach wie vor vieles voneinander.
    47. Wer waren die «Halbstarken»? Zu den «Fuffziger Jahren» gehören die Halbstarken dazu wie die Punks zu den 1980ern. Würde man eine Szene mit Dialogen entwerfen, sähe sie etwa so aus: Norbert, mit Elvistolle, Lederjacke und Röhrenjeans, geht auf seine Freunde zu: «Ei, du Halbstarker, hast Du nen Docht?» Erwin zieht ein schmales Päcken aus einer Lederjackentasche: «Nur ne Beamtenzigarette. Die will keiner rauchen.» Ein anderer springt mit seiner Marke ein: «Siehst Du die Kreuze aus Birkenholz. Da ruhen die Raucher von Overstolz.» Zwei Mädchen, eine mit Röhrenhose, die andere mit Petticoat, weichen der Gruppe, die auf zehn Personen angewachsen ist, verängstigt aus. Einer schiebt sein Moped an und springt, als es losknattert, akrobatisch in den Sattel. Dann umkreist er die beiden Mädchen, hämisch grinsend. Die anderen johlen: «Tutti Frutti» und klatschen rhythmisch in die Hände. Dann lassen sie die Mädchen ziehen. «Wetten ich versäg Dich mit meiner Kreidler?» ruft einer einem anderen zu. Die «Kreidler» – ein Statussymbol. Der andere antwortet: «Wart bis Montag. Ich muss meine noch frisieren.» Plötzlich kommt ein anderer um die Ecke: «Drüben hat eine Schlägerei angefangen.» Mit dem Schlachtruf «Haut se, haut se immer auf die Schnauze» ziehen sie los …
    Gegen das Spießertum und die Verlogenheit der Erwachsenen regte sich jugendlicher Protest. Halbstarke, die zumeist aus dem Arbeitermilieu kamen, provozierten die großstädtische Öffentlichkeit mit Krawallen und Massenschlägereien. Zwischen 1956 und 1958 wurden 96 große Krawalle in der Bundesrepublik gezählt. Rock ’n’ Roll drückte das neue Lebensgefühl eines offenen Aufruhrs gegen Althergebrachtes aus: Er war laut, hämmernd, trotzig, sinnlich. Rock ’n’ Roll war viel mehr als nur Musik, er war eine Weltanschauung. Bei Konzerten des amerikanischen Bürgerschrecks Bill Haley, dessen Programm «Rock Around the Clock» zum Lebensmotto der Halbstarkenwurde, zertrümmerten enthemmte Fans regelmäßig das Mobiliar – und das in einer Zeit, in der man noch gewohnt war, bei Konzerten brav auf Stühlen zu sitzen und allenfalls ein wenig zu schunkeln und zu klatschen. Dieser Jugendprotest eroberte auch die Leinwand, ein Film mit Horst Buchholz und Karin Baal in den Hauptrollen hieß «Die Halbstarken». Peter Kraus, die deutsche Antwort auf Elvis, schwamm ebenfalls auf dieser Welle.
    Doch die deutschen Leinwandhelden waren nur ein müder Abklatsch. Denn das Idol vieler rebellischer junger Menschen war ohne Zweifel der Amerikaner James Dean mit dem traurig-schönen Blick, der in seinen berühmten Filmen einen melancholischen Quertreiber spielte, der sich gegen Muckertum aufbäumte und dabei oft scheiterte, aber niemals aufgab. Der Film «… denn sie wissen nicht, was sie tun» aus dem Jahr 1955 fing die Zeit in grandioser Art und Weise ein. Und Dean starb, wie es sich für ihn «gehörte»: jung, mit 24 Jahren, bei einem Autounfall. Hinter dem eher ziellosen Jugendprotest der Halbstarken in der Bundesrepublik Deutschland stand im Übrigen nicht unbedingt eine politische Oppositionshaltung, sondern eher das traditionelle Aufbegehren großstädtischer Cliquen gegen die Erwachsenenwelt und ihre «spießigen» Ordnungsregeln. Aber war dies ganz und gar apolitisch, wie die «68er» später behaupten sollten, um für sich das Rebellentum zu reklamieren? Oder war der Krawall gegen den Muff der «Fuffziger» und gegen das «nachtotalitäre

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