Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland
Biedermeier», wie es der Schriftsteller Erich Kästner genannt hat, zum Teil nicht auch politisch? Von der zahlenmäßigen Stärke jedenfalls unterschied diese Jugendrenitenz nichts von späteren Revolten der jungen Generation, etwa der 68er-Bewegung.
48. Wie tickten die Deutschen zwischen 1947 und 1955? Es war ein großes Ereignis: Im Juni 1956 wusste man, wie die Nachkriegsdeutschen tickten. Jedenfalls behauptete dies die Demoskopie, die in die Bundesrepublik Einzug gehalten hatte und nun nach acht Jahren Arbeit ein Gruppenbild des Volkes zeichnete. Das «Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947–1955», herausgegeben von Elisabeth Noelle und Peter Neumann, die 1947 das Allensbacher Institut für Demoskopie gegründet hatten, präsentierte auf über 400 Seiten die Antworten auf jene 2176 Fragen, die über 600 Interviewer landauf, landab gestellt hatten.
Während 52 Prozent der Katholiken regelmäßig am Gottesdienstteilnahmen, gingen bei den Protestanten lediglich 13 Prozent regelmäßig und 28 Prozent unregelmäßig in die Kirche. 6 Prozent der befragten CDU- und CSU-Anhänger gaben zu erkennen, dass sie nie den Gottesdienst besuchten. Bürger, die auf Fragen der «Intimsphäre» antworteten, offenbarten für die Zeit recht freizügige Auffassungen. 58 Prozent hielten intime Beziehungen zwischen unverheirateten Menschen für zulässig, 13 sogar für notwendig und nur 16 Prozent für verwerflich. Nennenswerte Unterschiede zwischen Männern und Frauen tauchten nicht auf. Ein Drittel der Bundesbürger hatte nichts dagegen, wenn eine unverheiratete Frau Mutter wird, 41 Prozent deuteten mit einem «Kommt darauf an» Unsicherheit an und nur 18 Prozent verurteilten es.
Dass sich die technische Ausstattung der westdeutschen Familien zunehmend verbesserte, fanden die Interviewer auch heraus. 56 Prozent der Haushalte verfügten über eine Nähmaschine, 39 Prozent über einen Staubsauger, 10 Prozent über einen elektrischen Kühlschrank und 9 über eine elektrische Waschmaschine. Der Fleischgenuss war ein Wohlstandsindikator der «Fresswelle» in den 1950er Jahren: 27 Prozent der Westdeutschen aßen Fleisch fünfmal und öfter, 42 Prozent drei- bis viermal in der Woche und nur 19 Prozent zweimal und ganze 8 Prozent einmal. Die Lieblingsspeise der Deutschen war das Schweinekotelett (54 Prozent).
Die Werte zur Verwurzelung der Demokratie waren noch sehr bedenklich: 32 Prozent der Bundesbürger interessierten sich «überhaupt nicht» und 41 Prozent «nicht besonders» für Politik. Aber auch für «Bildung und Wissen» hatten die Bundesbürger nicht viel übrig. 35 Prozent hatte nicht ein einziges Buch in der Wohnung; dafür stieg die Zahl jener, die einmal oder öfter jeden Monat ins Kino gingen: von 31 Prozent 1950 auf 40 Prozent 1955. Insgesamt interpretierten die Demoskopen die Befunde so: Das Lebensgefühl der Bundesbürger verbesserte sich. Die Umwelt erschien ihnen nicht mehr so feindlich wie noch kurz nach der Währungsreform 1948. Immer mehr Deutsche meinten, es gebe mehr gutwillige als böswillige Menschen. Bis vor kurzem war das Verhältnis noch anders herum gewesen.
Die Antworten zum Geschichtsbild erscheinen uns heute skandalös, sie konnten zeitgenössisch allerdings kaum überraschen: Welches war der größte Staatsmann, der am meisten für Deutschland getan hat, lautete eine Frage. Platz 1: Bismarck (30 Prozent), Platz 2bereits Adenauer (17 Prozent), Platz 3 immer noch Hitler (7 Prozent). 10 Prozent waren der Ansicht, Hitler sei der größte Staatsmann des 20. Jahrhunderts, 22 Prozent nannten ihn einen «vorzüglichen Staatsführer mit kleinen Fehlern» und 40 Prozent meinten, er habe manches Gute vollbracht. Nur 28 Prozent bezeichneten Hitler als gewissenlosen Politiker.
Über die Größen der Bundesregierung konnten die Befragten Westdeutschen indessen nicht viel sagen. Die meisten Minister waren ihnen unbekannt. 1955 hatten die Allensbacher ihre Interviewer mit der Frage losgeschickt: «Wenn wir eines Tages vor der Wahl stehen, entweder Europa sowjetisch werden zu lassen oder uns mit allen Mitteln gegen die Russen zu verteidigen – was ist denn wichtiger: unsere Lebensform zu verteidigen, auch wenn es dabei zu einem Atomkrieg kommt – oder vor allem den Krieg zu vermeiden, auch wenn man dann unter einer kommunistischen Regierung leben wird?» Fast gleich viel antworteten «Lebensform verteidigen» (38 Prozent) und «Krieg vermeiden» (34 Prozent). Auf die Frage: «Was
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