Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Gebrauch.
Dieser Eulenspiegel oder Ulenspiegel ist ein Narr, an dem wie im
Narrenschiff
die Korrumpierbarkeit menschlichen Lebens illustriert wird; er ist keine abstrakte Position wie die verkörperte Torheit bei Erasmus, sondern ein aktiv handelnder Held. Seine Geschichte soll die Zeit verkürzen, aber darf den Gottesdienst nicht stören, wie es mit einem Augenzwinkern in der Vorrede heißt. Narrheit ist ein narratives Prinzip und mehr noch ein radikales und bisweilen auch aggressives ideologisches Programm oder – wie man es mit einem sehr neuartigen Begriff auch sagen könnte – ein Programm der Ideologiekritik. Er ist ein Narr, aber weniger ein Dummkopf, sondern vielmehr ein Schelm, ein Gauner durchaus mit verbrecherischen Attitüden, aber auch ein Wahrheitssucher und insofern ein Philosoph, ein Skeptiker und ein Zyniker zugleich.
Seine Geschichte besteht aus 95 Kapiteln, von denen jedes selbst wiederum eine Geschichte (eine Histori) wiedergibt. Der Bogen wird von seiner Herkunft bis zu den Umständen nach seinem Tod gespannt. Die 96. Histori zeigt seinen Epitaph mit dem Grab(stein)-spruch. In nahezu all seinen Geschichten stiftet er soziale Unordnung und entlarvt somit vor allem die unausgesprochenen Ideologeme dieser Zeit. Seine Geschichten sind dabei oft grausam, obszön und gewaltsam. Insbesondere ist er ein Sprachpurist, der die Welt immer dadurch in Unordnung bringt, wo er übertragene Redensarten wörtlich versteht und danach handelt. Es geht ihm darum, grundlegende Diskrepanzen zwischen der Welt, wie sie ist, und der Welt, wie sie sich repräsentiert, aufzudecken. Offenbar war und ist dies ein Potenzial, das bis heute nichts von seiner Sprengkraft verloren hat.
16. Ist Geld oder Glück wichtiger? In Augsburg – wo sonst? –, in der damaligen europäischen Hauptstadt des Geldes und des Kapitals, wo unter anderem die Fugger residierten und Handel europaweit betrieben wurde, erschien im Jahr 1509 ein Bestseller, der auchvom Geld handelte, ein Buch mit dem Titel
Fortunatus
, dessen Verfasser bis heute nicht ausfindig gemacht werden konnte. Dieser frühe Prosaroman wurde in die meisten europäischen Sprachen übersetzt, war zu seiner Zeit eines der am meisten gedruckten Bücher und galt als Volksbuch. Es war ein Bestseller und ein Longseller, sein Erfolg war noch im 17. Jahrhundert zu spüren.
Das Buch erzählt die Geschichte von Fortunatus, dem Glücksbegabten, der versucht, sein ererbtes Vermögen zu mehren, um es dann seinen beiden Söhnen Andolosia und Ampedo zu übergeben. Im Grunde genommen ist damit schon eine typische bürgerlich-kapitalistische Ideologie vorgezeichnet. Das neu entstehende und erstarkende Bürgertum stützt sich vor allem auf ein Mittel, das in einer komplexer werdenden Welt immer wichtiger wird: auf Geld und Kapital. Insofern war der Roman interessant für ein aufstrebendes Bürgertum, für Kaufleute und Stadtbewohner, die vom Handel profitierten, Vermögen erwarben und verwalteten.
Fortunatus lebt auf Zypern, weil dies ein Handlungsort zwischen West und Ost ist. Er unternimmt in seinem Leben zwei große Reisen, nämlich nach Westen in die bekannte europäische Welt, bis nach Irland. Auf dieser Reise erlebt er einige Abenteuer und gerät fast in Lebensgefahr, bevor ihm eine «junckfraw des glücks» erscheint, die ihm sechs «tugendt» – gemeint sind Weisheit, Reichtum, Stärke, Gesundheit und Schönheit – verleiht und ihm, an sechster Stelle, einen Freiwunsch gewährt. Fortunatus wünscht sich einen Geldsäckel, dem man so viel Geld wie auch immer entnehmen kann, ohne dass er leer wird. Als es ihn Jahre später wieder in die Ferne zieht, reist er nach Osten und kommt sogar bis nach Indonesien. Ausgangs- und Zielpunkt dieser Reise ist Alexandria, wo Fortunatus ein zweites Zaubermittel an sich bringt: Er stiehlt dem Sultan einen Zauberhut, mit dem man sich an jeden beliebigen Ort hin versetzen kann. So phantastisch das klingt, so sehr ist es doch auch nicht zuletzt auf die ökonomische Situation jener Zeit bezogen. Handelswege überziehen die gesamte bekannte Welt und konfrontieren zumindest die wohlhabenden Stadtbürger mit einem Phänomen, das man heutzutage als Globalisierung bezeichnet.
Dass Fortunatus aufs Geld setzt, macht auf bestimmte Verschiebungen im Gefüge der damaligen Zeit aufmerksam. Offenbar hatte sich die Bedeutung des Geldes grundlegend verändert. Geld ist nicht nur ein verallgemeinerter Gegenwert für Waren, nicht nur ein universellesTauschmittel,
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