Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
kulturell und historisch geprägt. Wir sind gewohnt, den Diskurs über Sexualität und Erotik für moderne Errungenschaften zu halten, und das ist sicherlich richtig. Doch erotische Diskurse hat es schon immer gegeben, es gilt nur darauf zu achten, dass wir sie nicht unter einer modernen Perspektive lesen. Einen ganz herausragenden erotischen Diskurs stellt die erotische Lyrik des Barock dar. Joseph Kiermeier-Debre und Fritz Franz Vogel haben 1995 ein sehr schönes und illustres Taschenbuch mit erotischen Gedichten des Barock herausgegeben, das einen wunderbaren Querschnitt über die erotische Lyrik dieser Zeit bietet. Nun mag es sein, dass wir Freizügigkeit als eine moderne Errungenschaft betrachten; wenn wir allerdings meinen, mit Sexualität sei man früher schamhafter umgegangen, so können uns diese Gedichte eines Besseren belehren. Die Lektüre dieser Gedichte kann einem heute noch die Schamesröte ins Gesicht treiben. Es gibt darin fast keine sexuelle Spielart, keine lustvolle Aberration, keinen Fetisch, keine Obsession, die sich nicht auch in einer modernen Darstellung der Spielarten des Eros finden lässt.
Im Zentrum dieser Gedichte stehen zum einen der weibliche Körper, der immer wieder neu beschrieben und damit in ganz unverhohlener und drastischer Weise sexualisiert und mithin zum Objekt eines männlichen Blicks und des männlichen Begehrens gemachtwird. Auch der Metaphernreichtum für den menschlichen Sexualakt ist durchaus beeindruckend, aber ebenso die Kultivierung des, historisch gesehen, pervers Anmutenden, von dem die Autoren zumindest indirekt Zeugnis ablegen, wenn von Sex mit Schwangeren die Rede ist oder von der Obsession, gerade während der Menstruation Sex haben zu wollen: «Man geht/wie iedermann bekandt/Durchs rothe meer in das gelobte land» (so heißt es in einem Gedicht von Johann von Besser). Und zum anderen liegt das Schwergewicht auf der rhetorischen Entfaltung einer Verführungszeremonie. Das Ziel ist zumeist die sexuelle Hingabe der Frau. Die ist allerdings selten. Der Sprechimpuls kommt eher aus einer Situation, in der die Frau unerreichbar ist oder sich – wie es heißt – ziert. Die Frauen aber sind Typen; sie heißen Calista, Rosette, Laura oder eben Lesbia.
Dabei gehören Sex und Tod zusammen, was man auch in der Metapher des kleinen Todes für den Orgasmus ausdrückt. Man kann sogar so weit gehen und sagen, dass das Todesgedenken dieser Zeit (
memento mori
) und die sexuellen Phantasien direkt miteinander korreliert sind. In dem Maße, in dem der Tod zu einer beherrschenden ideologischen Größe wird, in dem Maße eröffnet sich auch die Möglichkeit, Sexualität in ihrer drastischen Form als Moment ebenso drastischer Diesseitigkeit zu funktionalisieren. In der Barocklyrik sind daher Sex und Tod die zwei Seiten ein und derselben Medaille.
26. Macht Gelegenheit Dichtung? Und ob – bis heute. Man kann allerdings, wenn man die Linie vom kunstvollen Barockgedicht bis hin zu den holprig gereimten Geburtswünschen für einen Familienangehörigen zieht, von einer Verfallsgeschichte des Gelegenheitsgedichts sprechen. Entscheidend ist aber, dass man sich zunächst über die Bedeutung von Gelegenheit unterhält. Gelegenheit macht bekanntermaßen Diebe und ebenso auch Liebe, und selbst Goethe soll alle seine Gedichte als Gelegenheitsgedichte charakterisiert haben, wie man es bei Wulf Segebrecht nachlesen kann. Daher muss man, wie Segebrecht vorschlägt, zumindest zwischen zwei Sorten von Gelegenheit unterscheiden, den
casus
und die
occasio
. Das Erste meint den Fall und mithin den konkreten Anlass. Das andere meint die Gelegenheit im Sinne einer günstigen Gelegenheit, einen lyrischen Einfall zu Papier zu bringen. Im einen Fall (
casus
) muss ein Gedicht für den Anlass produziert werden, im anderen Fall (
occasio
) wird ein Gedicht ganz spontan produziert. Das gilt in besonderem Maße für Barockgedichte.Man kann sich nämlich umgekehrt fragen, wie denn soziale Situationen verfasst sind, wenn sie Anlass für eine Gedichtproduktion und ggf. Gedichtrezitation oder zumindest -lektüre geben. Im Barock findet sich eine ganze Reihe von Anlässen, die selbst heute noch im nicht-professionellen Bereich gelten: Geburtstage, Namenstage, Jubiläen, erbrachte Leistungen, insbesondere bestimmte schulische und akademische Abschlüsse. Was heute fast gänzlich verschwunden ist, war aber im Barock noch Anlass genug: der Tod bzw. das Begräbnis. Ein wunderbares Gelegenheitsgedicht hat Johann
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