Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
gesamte 18. Jahrhundert. Jürgen Habermas, einer der berühmtesten deutschen Philosophen und Soziologen des 20. und 21. Jahrhunderts, den die Wochenzeitschrift
Die Zeit
einmal als «Weltmacht Habermas» (10.6.2009) auf ihrer Titelseite tituliert hat, hat sogar von einem unvollendeten Projekt gesprochen, das selbst bis ins 20., ja bis ins 21. Jahrhundert hinein unvermindert fortwirkt. Dass die Aufklärung fortwirkt, haben auch die Philosophen Theodor W. Adorno (1903–1969) und Max Horkheimer (1895–1973) in ihrem berühmten Buch
Dialektik der Aufklärung
deutlich gemacht, das in den Kriegsjahren im amerikanischen Exil entstand und 1944 veröffentlicht wurde. Aber sie machen auf eine gefährliche Dialektik aufmerksam. Die Aufklärung kann ihr eigenes Potenzial nutzen, um sich selbst zu instrumentalisieren oder zu totalisieren oder einem Totalitarismus Vorschub zu leisten, und sich damit selbst aus den Angeln heben.
Dass das 18. Jahrhundert aber das Zeitalter der Aufklärung ist, das war auch den Zeitgenossen bewusst, zum Teil entwickelte sich – wie man heutzutage sagen würde – tatsächlich ein geradezu moderner Hype um das Aufklärungsdenken. Aufklärung selbst war, wie die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger schreibt, ein «Modewort» insbesondere des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Aber wie das bei solchen Strömungen und Moden zu sein pflegt, so kennt die Intelligenzija zwar den Begriff, die meisten nehmen daran teil, viele tragen dazu bei, dennoch weiß man gar nicht recht zu sagen, was denn Aufklärung sei. So ist diese Frage in einem Artikel der
Berlinischen Monatsschrift
im Jahr 1783 fast beiläufig aufgetaucht. Diese Zeitschrift galt ohnehin als das markanteste Organ der Aufklärung. In dieser Zeitschrift veröffentlichte der Berliner Pfarrer Johann Friedrich Zöllner 1783 einen Aufsatz mit antiaufklärerischer Tendenz, denn er wandte sich gegen die Zivilehe. In seinem Aufsatz macht er eine markante Fußnote, beiläufig und doch fundamental. In dieser Fußnote stellt er die entscheidende Frage und schreibt: «Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als Wasist Wahrheit, sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge!» Der kritische Unterton ist nicht zu überhören, aber vielleicht veranlasste diese Frage gerade deswegen namhafte Zeitgenossen und Aufklärer, zu dieser Frage Stellung zu beziehen. Kants Antwort lautet also: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.»
So schön und eingängig diese Definition klingt, so dringlich ist doch die Frage, was sie denn mit der Literatur zu tun hat. Das ist zugleich die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Philosophie, zumal im Kontext des 18. Jahrhunderts. Tatsächlich steckt in diesem Satz eine Grundidee, die nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die Literatur leitend ist. Worüber die Philosophie nachdenkt, das ist zugleich die Grundlage und Voraussetzung der Literatur, nämlich die Idee des Subjekts. Zunächst besteht die grundlegende Idee der Aufklärung darin, dass die Vernunft das leitende Prinzip in der Erkenntnis der Welt durch den Menschen sein soll. Nicht mehr Gott ist der Garant einer göttlichen Ordnung, die mit Hilfe der Vernunft und als vernünftig erkannt wird, sondern Vernunft ist überhaupt erst dasjenige, was den Menschen zum Menschen macht. Genau diesen Prozess, von der Anerkenntnis einer vorgegebenen, göttlichen, kosmologischen Ordnung über eine vernünftige und vernunftbasierte Erkenntnis dieser Ordnung bis hin zur Selbstbegründung des Menschen als vernünftiges und vernunftbegabtes Wesen, bezeichnet Kant als «Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit». Mündigkeit heißt nun positiv, dass es die Vernunft ist, mit der sich der Mensch erst selbst als vernünftiger Mensch versteht. Am Ende der Aufklärung ist der Mensch nicht mehr Teil einer Ordnung, und sei sie noch so vernünftig, sondern er ist der Ursprung der Ordnung, weil er die Verwirklichung von Vernunft ist. Für diesen Begriff des Menschen hat sich im 18. Jahrhundert der Begriff des Subjekts eingebürgert. Dieser Subjektbegriff wird philosophisch entworfen. Die Literatur wiederum erzählt uns von Subjekten. Oder anders gewendet: Das Subjekt ist der Held der Literatur des 18. Jahrhunderts.
30. Was ist Physikotheologie? Die Lyrik gerät um 1700 mit der beginnenden Aufklärung in eine Krise. Die überkommenen lyrischen Formen und
Weitere Kostenlose Bücher