Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Roman lange Zeit autobiographisch gelesen, doch dies ist nicht plausibel. Bestimmte Geschehnisse kann Grimmelshausen nicht selbst erlebt haben; er hat sie vielmehr nach historischen Quellen gestaltet. Dennoch hat Grimmelshausen, 1621 oder 1622 geboren und protestantisch getauft, eigene Kriegserfahrungen gesammelt, er war Schreiber, Schaffner (so etwas wie ein personalisiertes Finanzamts-Inkassobüro) und Schultheiß (so etwas wie ein personalisiertes Ordnungsamt) und hatte auch zweimal im Leben eine Gastwirtschaft, die er ‹Zum silbernen Stern› nannte. Er konvertierte zum Katholizismus. Er war durchaus gebildet, auch wenn er nie eine akademische Laufbahn einschlagen konnte. Gestorben ist er 1676.
Sein Roman ordnet sich in die zeitgenössische Klassifikation der Romane ein und übersteigt sie doch. Es gibt eine Deutung, die den Roman von seinem Titelkupfer her zu verstehen sucht, weil es auf vielfältige Weise auf die Romantradition, in der der
Simplicissimus
steht, und seine Art des Erzählens Bezug nimmt. Ein Titelkupfer ist eine Text-Bild-Kombination, die man ganz oder partiell der Titelseite oder auf der gegenüberliegenden, linken Seite als Frontispiz eingedruckt hat (wie im vorliegenden Fall). Eine solche Text-Bild-Kombination kann einen emblematischen Aufbau haben mit kurzer Überschrift (
inscriptio
), Bild (
pictura
) und längerer Unterschrift (
subscriptio
).
Die Überschrift ist zugleich der Titel des Buches. Die
subscriptio
enthält einen Text in Ich-Form – ein Ich, das sich in hypertropher Form auf den abenteuerlichen Lebensweg des Simplicissimus ebenso wie auf den Roman als Ganzes beziehen lässt: «Ich ward gleich wie phoenix durchs feuer geboren/Ich flog durch die Lüfte, ward doch nicht verloren/Ich wandert im wasser ich streiffte zu land …». Von entscheidender Bedeutung ist aber das Monstrum im Bild. Es zeigt ein eigenartiges Wesen mit Menschenkopf und Teufelshörnern, das einen seltsam zusammengesetzten, geradezu hybriden Körper hat: eine weibliche Brust und einen menschlichen Bauch, dafür aber Vogelfüße, wovon einer in einer Schwimmflosse, der andere in einem Kuhhuf endet. Das Monstrum hat Arme wie ein Mensch, aber auch Flügel wie ein Vogel und einen Schwanz wie ein Fisch, und es hat ein Schwert umgegürtet. Es steht auf einem Boden, auf dem schon Larven und Masken verstreut liegen. Mit seinen Armen hält es ein Buch hoch, das aufgeschlagen ist und eine eigenartige Zusammenstellung von Bildern und Symbolen enthält. Oben sieht man Krone, Pfaffenhut und Narrenkappe, darunter unter anderem eine Kanone, einenFestungsturm, ein Schwert, ein Schiff, Schminkgefäße, eine gebratene Gans und ein eigenartiges Insekt. Zumindest so viel kann man auf Anhieb sagen: Alle Elemente zitieren eine strukturierte und fast schon enzyklopädische Ordnung, die aber in Unordnung geraten ist oder die eine andere, verzerrte, groteske Ordnung widerspiegelt. Damit würden die Unordnung im Buch und die Hybridität des Monstrums korrespondieren. Insgesamt schaut das Monstrum aus wie ein Satyr und spielt damit auf jene zur Zeit übliche etymologische Erklärung des Begriffes Satire an. Nicht zuletzt deswegen kann das Monstrum selbst für den Roman stehen, insbesondere für seine satirische Intention, und die unterschiedlichen Komponenten des Monstrums für das Bestreben und das Potenzial des Romans, unterschiedliche Traditionslinien zu kombinieren und festgefügte Formvorgaben zu sprengen. Dass es gleichzeitig ein Buch hochhebt, in dem selbst nun wiederum die Unordnung sich abbildet, verweist auf eine Buch-im-Buch-Struktur. Das Titelkupfer wäre somit eine Selbstbespiegelung des Romans, der dem Leser damit einen Hinweis auf seine Lektüre gibt und ihn gleichzeitig verwirrt. Aber vielleicht verrät uns das Titelkupfer auch ein Geheimnis dieses Romans, das Geheimnis nämlich, warum er sich bis heute hat in unserem literarischen Gedächtnis halten können. Was diesen und was jeden Roman zu einem Roman macht, das ist genau diese Hybridität, die sich nicht als Unordnung allein, sondern als narrative Potenz, als Fabulierlust lesen lässt. Von daher ist das Titelkupfer vielleicht sogar eine poetologische Richtlinie.
Aufklärung
29. Was heißt Aufklärung? Auf diese Frage gibt es eine berühmte Antwort, sie stammt von Immanuel Kant (1724–1804) und hat bis heute nichts von ihrer Gültigkeit und von ihrer Durchschlagskraft eingebüßt. Die Aufklärung setzt schon am Ende des 17. Jahrhunderts ein und durchzieht das
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