Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Erfahrungsseelenkunde psychologischer Roman geworden.
Der Roman erzählt die Jugend seines Titelhelden. Es ist eine Sozialisationsgeschichte, also eine Geschichte, in deren Fokus die Frage steht, wie denn dieser Junge Teil der Gesellschaft werden kann. Dazu gehören in einem bürgerlichen Zeitalter vor allem Fragen der Schule, Ausbildung und individuellen Förderung. Dieser Roman jedoch legt sein Schwergewicht auf die Spiegelungen, die äußere Umstände in der Erfahrung dieses Jungen hinterlassen, und in diesem Sinne ist der Roman ein einzigartiges psychologisches Dokument. Die Ausgangsbedingungen für den jungen Anton Reiser sind denkbar schlecht. Seine rigiden und bigotten Eltern sind nicht in der Lage, ihm Zuneigung oder Anerkennung oder auch nur ein bisschen Liebezu schenken, was geradezu zwangsläufig dazu führt, dass der Junge kein Selbstwertgefühl ausbilden kann und daher zeit seines Lebens immer von dem einen Extrem einer untilgbaren Vorstellung der eigenen Minderwertigkeit ins andere Extrem einer Größenphantasie rutscht. In dieser Welt, in der es – die Eltern sind Quietisten – auf die Ruhe, die Abtötung von Leidenschaften ankommt, gibt es keinen Ausgleich, keine Vermittlung zwischen Aufbegehren und Unterwerfung. Der Junge selbst entwickelt sehr schnell ein vages Bewusstsein seiner emotionalen Benachteiligung und merkt, dass er sich verschließt und den Weg eher nach innen antritt. Dadurch entwickelt er aber auch intellektuelle Fähigkeiten, zum Beispiel im Lateinunterricht und in der Frage der Ausbildung des eigenen Gedächtnisses, die sich wiederum sozial ausnutzen lassen. Bildung ist ein Moment des persönlichen Fortkommens. Doch der Roman wäre kein psychologischer Roman, würde er nicht die psychische Dimension dieser Anstrengungen in Sachen Sozialisation aufzeigen. Zu den bittersten Stellen des Romans gehören jene Erfahrungen einer geradezu existenziellen Enttäuschung, wenn die verstärkte Bemühung um soziale Anerkennung durch die Autoritätspersonen zum Gegenteil führt, zu Enttäuschung, Herabsetzung und vor allem Missverständnissen. Damit leistet der Roman in ersten Ansätzen immerhin so etwas wie eine psychologische Kritik der Aufklärung, in dem er auf die Umstände eingeht, die dem aufklärerischen Mythos von einer Selbstbefreiung aus der Unmündigkeit im Inneren des Menschen, in seinen psychischen und emotionalen Dispositionen entgegenstehen. Und so kann man immerhin in zwei Richtungen fragen: Ist der Roman ein Medium für die Psychologie, oder ist die Psychologie das Sujet für den modernen Roman? Und man kann sagen, dass beides gleichermaßen gilt.
Sturm und Drang
42. Wie hängen Religion und Gefühl zusammen? Die Revolution frisst ihre Kinder. Ein solches Schicksal war Wieland beschieden, aber ebenso hat es Friedrich Gottlieb Klopstock erfahren müssen, wenn auch in abgemilderter Form. Dabei muss man in Rechnung stellen, dass er eine einzigartige schriftstellerische Karriere hingelegt und die größtmögliche Resonanz gefunden hat. Kaum eine Literaturgeschichte kommt bei Klopstock ohne den Hinweis auf Goethes
Werther
aus. Hier wird eine Szene der beginnenden Liebesleidenschaft zwischen Werther und Lotte geschildert, in der ein Wort, sein Name, ausreicht, um sich zu offenbaren. Dass Klopstock hier in diesem Roman Erwähnung findet, ist allein bemerkenswert und zeigt zumindest an, welchen Bekanntheitsgrad Klopstock gehabt haben muss. Der Name wird damit zu einer Chiffre, die ganz verkürzt ein gewaltiges emotionales Programm der Naturerfahrung mittels Literatur benennt. Grundlage dafür ist zunächst einmal eine ganz ähnliche Funktionalisierung und Metaphorisierung von Natur und Atmosphäre, die in Goethes Text schlicht abgerufen, ja kopiert werden kann. Gemeint ist Klopstocks nicht zuletzt wegen dieser Erwähnung wohl berühmteste Ode
Frühlingsfeier
(aus dem Jahre 1759, überarbeitet 1771), wo es heißt:
Lüfte, die um mich wehn, und sanfte Kühlung
Auf mein glühendes Angesicht hauchen,
Euch, wunderbare Lüfte,
Sandte der Herr! der Unendliche!
Der Bezug auf Gott verweist auf Klopstocks eigenes Hauptwerk, auf den
Messias
. Kaum jemals war die Biographie eines Autors stärker mit einem einzelnen Text verbunden. Klopstock studiert evangelische Theologie und veröffentlicht noch anonym die ersten drei Gesänge 1748. Den Plan zu einem solchen Werk muss er schon sehr früh, bereits als 18-Jähriger, gefasst haben. Der
Messias
wird zum Projekt eines Lebens. 1751 ist der erste
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