Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
mit dem Begriff der
Sesenheimer Gedichte
oder
Sesenheimer Lieder
etwas ungenau zusammengefasst hat. Man kann zeigen, dass diese Gedichte so revolutionär nicht sind, weil sie auf Formen und Themen, auf Muster und Topoi zurückgreifen, die durchaus konventionalisiert sind. Und dennoch ragen aus der Gedichtproduktion jener Zeit zwei oder drei Gedichte heraus, die in der Tat eine epochale Bedeutung besitzen.
Das sind zum Beispiel das
Mailied
oder das Gedicht
Willkommen und Abschied
. Das erste Gedicht wurde wohl schon 1771 geschrieben. Es erschien zuerst in der «Damenzeitschrift»
Iris
im Jahr 1775, und zwar unter dem Titel
Mayfest
.
Willkommen und Abschied
hatte zunächst keinen Titel; es erscheint erstmals ebenfalls 1775 in der
Iris
. In beiden Gedichten wird eine Naturerfahrung mit einer Liebeserfahrung überblendet, auch wenn im einen Fall die Liebe gefeiert (
Mayfest
) und im anderen Fall die Liebe durch den Abschied überschattet wird (
Willkommen und Abschied
). Entscheidend und völlig neu ist aber doch, dass die äußere Erfahrung der Natur und die innere Erfahrung der Liebe nicht mehr zu unterscheiden sind oder, wenn doch, dass sie sich wechselseitig bespiegeln. So lautet die erste Strophe des
Mayfests
: «Wie herrlich leuchtet/Mir die Natur!/Wie glänzt die Sonne!/Wie lacht die Flur!» Und die fünfte Strophe lautet: «O Mädchen Mädchen,/Wie lieb’ ich dich!/Wie blinkt dein Auge!/Wie liebst du mich!» Und dazwischen gibt es keinen Übergang, sondern das Kontinuum eines allumfassenden emotionalen Erfahrungsraumes des lyrischen Ichs.
Willkommen und Abschied
erweitert diese Konstellation noch, indem es fast so etwas wie eine Geschichte erzählt. Ein männliches lyrisches Ich reitet durch die nächtliche Natur, um das geliebte Mädchen zu sehen. Doch die Begegnung ist von kurzer Dauer (sie dauert gerade mal eine Strophe lang), bevor dann der Abschied, plötzlich und unvermittelt, bevorsteht. Gerade der nächtliche Ritt nach einem überhasteten Aufbruch erlaubt eine ganz besonders intensive Naturerfahrung, weil sie in einem Spannungsfeld von Angst und Mut entfaltet wird. «Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,/Doch tausendfacher war mein Mut», heißt es in der zweiten Strophe. Und diese ohnehin schon intensivierte Naturerfahrung wird abermals mit einer Liebeserfahrung überblendet.
Die Literaturwissenschaft hat diese Form der Lyrik als Erlebnislyrik gekennzeichnet, historisch eingeordnet und damit auch ein Stück weit relativiert. Aber wenn man sich fragt, welche Vorstellung wir heute noch von Lyrik haben, so schwingen dabei eine ganze Reihe von Vorstellungen mit, die mit Goethes Gedichten aus jener Zeit zum ersten Mal in dieser eindringlichen Form verwirklicht wurden. Mit diesen
Sesenheimer Gedichten
wird das Subjekt erstmals zum Subjekt der Lyrik. Liebe ist kein rhetorisches Programm, keine ethische Einstellung, und Liebeslyrik ist kein Beweis einer sprachlichen Kunstfertigkeit. Allerdings darf man auch nicht ins Gegenteil verfallen und dieser Lyrik ein höheres Maß an Authentizität zusprechen. Vielmehr ist es so, dass es dieser Lyrik gelingt, erstmals Authentizität in solch reiner Form literarisch zu erfinden und auszudrücken.
44. Was ist ein echter Kerl? Der Sturm und Drang war, wie deutlich wurde, eine Jugendbewegung, eine Protestbewegung, die Literatur als Medium ihres Protestes nutzte, eine Bewegung junger Männer, die sich als Autoren verstanden und dabei eine eigene Literaturform begründeten. Ihr Protest richtete sich in erster Linie gegen die Reglementierung ihrer Ausdrucksform, also der Literatur selbst, so dass sie eine Konzeption von Literatur, insbesondere im Bereich der Dramatik und der Lyrik, entwarfen, die gegen diese Regeln aufbegehrte – auf eine doppelte Art und Weise: einmal inhaltlich und einmal formal oder – wie man auch sagen könnte – performativ, indem die Texte den Regelbruch vollzogen, von dem sie implizit handeln. Und sie protestieren auch gegen bestimmte gesellschaftliche Umstände, gegen eine verkrustete Gesellschaftsstruktur, die schon längst von bürgerlichen Normen getragen wird, sich aber immer noch feudal gibt. Der gesellschaftliche Protest dieser Jugendbewegung war daher in allererster Linie egoistischer Natur. Er betraf vor allem die sozialen Restriktionen, die die Autoren des Sturm und Drang selbst zu spüren bekamen. Ihnen waren soziale Aufstiegschancen verwehrt. Nur ganz wenige schafften es, sich bürgerlich zu etablieren. Und die allergrößte Ausnahme von
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