Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
allen war sicherlich Goethe.
Dabei entstand eine ganz bestimmte Vorstellung vom Sturm-und-Drang-Helden, es entstand der Mythos vom Kraftkerl, der das Genie seines Autors in die Handlungsmacht einer Bühnenfigur übersetzt und vorführt, wie er sich, wenn schon eine beengte Welt ihn umgibt, Raum zur Selbstverwirklichung schaffen und seine Probleme selbst mit seiner Tatkraft lösen will, auch wenn er dazu in Konflikt mit seiner gesamten Umwelt, mit der ganzen Welt geraten müsste.
Sosehr diese Figur selbst zu einem Mythos geworden ist, so deutlich steht ein mythologisches Vorbild für sie parat, es ist Prometheus, und niemand hat dieses Bild besser in Literatur verwandelt als der junge Stürmer und Dränger Goethe mit seinem gleichnamigen Gedicht, das aus den Jahren 1772 bis 1774 stammt. In diesem Gedicht ist alles drin, was zum Sturm-und-Drang-Selbstverständnis gehört: das Aufbegehren gegen eine göttliche und väterliche Instanz (Zeus und die Götter), die eigene Kraft, die eigene Erfahrung, die eigenen Möglichkeiten und schließlich das eigene Schöpfertum. Und nicht zu vergessen das Aufbegehren gegen konventionalisierte Formen des Gedichts: Es ist reimlos und in freien Versen geschrieben.Es handelt von einer Ablösung der alten Götter durch einen neuen Menschen und damit von einem epochalen Umbruch. So heißt die letzte Strophe:
Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen,
Genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich.
Nichts hindert uns daran, diese Strophe poetologisch zu lesen, also auf Goethes eigenes Schreiben und seine Vorstellung von Literatur zu jener Zeit zu beziehen. Genau das macht auch ein Autor im Verständnis des Stürmers und Drängers: Er sitzt und formt Menschen, womit die Idee des second maker (siehe Frage 42) angesprochen wird, doch diesmal in einem konfliktträchtigen Verhältnis zum ersten Schöpfer.
Goethe scheint sich auszukennen mit diesen Kraftkerlen, hat er doch einen zweiten geschaffen, der nicht nur ein grandioser Selbsthelfer ist, sondern auch noch zu Kraftausdrücken neigt, die ihn berühmter als viele andere literarische Figuren – jedenfalls dem Namen nach – hat werden lassen:
Götz von Berlichingen
. Aber gleichzeitig wird deutlich, dass seine Inszenierung in den Dramen nicht eine Wunschvorstellung auf die Bühne bringt, sondern eine komplexe Problemdiagnose, die mit diesem Typus verknüpft ist. Es ist doch auffallend, wie dieser Kraftkerl Götz endet: Nach einer langen Fehde als Besiegter und Verlorener, verlassen und gedemütigt, im Gefängnis auf den Tod wartend und nach Freiheit nur noch schmachtend, stöhnt er: «Himmlische Luft – Freiheit! Freiheit! Freiheit!» Doch Freiheit ist auf Erden nicht zu haben. Die Welt, in der man mit Aufrichtigkeit und Mut Politik machen konnte, ist untergegangen. Letztlich ist Götz ein anachronistischer Charakter geworden. Er hat sich selbst überlebt. Woher kommt also die resignative Sozialdiagnose? Die Antwort auf diese Frage führt in den Kernbereich des Sturm und Drang und der diagnostischen Kraft seiner Dramatik.
Das Sturm-und-Drang-Drama entwirft ja nicht nur den Typus eines Kraftkerls, sondern versetzt ihn auch in den entsprechendensozialen und privaten Kontext, um aufzuzeigen, wo er an seine Grenzen stößt. Daher wird man in der Sturm-und-Drang-Literatur keinen ungebrochenen Kraftkerl finden. Im Gegenteil: der Kraftkerl ist dazu da zu scheitern, um an den Bedingungen des Scheiterns zugleich jene entscheidenden Strukturen der Welt transparent zu machen, an denen auch die Autoren so häufig scheitern.
45. Welche Vorbilder hat ein Originalgenie? Das ist das Grundproblem der Literatur des Sturm und Drang: Man will zum ersten Mal Literatur aus sich selbst heraus schaffen und nicht durch Rückgriff auf die Tradition oder die Natur, eine Literatur, die sich nicht dem alten Vorbild oder der reglementierten Nachahmung der Natur allein verdankt, sondern Literatur, die originaler Ausdruck des Genies ist. Man will also ein vorbildloses Original sein, aber welches Vorbild soll man sich dafür wählen? Der Sturm und Drang war ein Aufbruch in eine radikal neue Literatur, jedenfalls in seinem Selbstverständnis, doch so radikal sein Anspruch war, so vergänglich, so kurzlebig war das Feuerwerk, das er literarisch abbrannte. Und das lag nicht zuletzt an seinen Widersprüchen, die nicht aufgelöst werden konnten, ohne ebendiesen Anspruch aufzugeben.
Dies wird an
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