Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
1189 und 1192. Bei einem Überfall von Christen wurde Nathans gesamte Familie auf brutalste Weise umgebracht. In der Folge nimmt er ein christliches Mädchen, Recha, als Pflegetochter an und erzieht sie wie ein eigenes Kind. Als er auf Geschäftsreise ist,brennt es, und ein christlicher Tempelherr rettet Recha, die ihm von da an innigst zugetan ist. Auch der Tempelherr, der zuvor vom muslimischen Sultan von der Todesstrafe begnadigt worden ist, verliebt sich und will Recha heiraten, was Nathan verhindern möchte. Am Ende stellt sich nämlich heraus, dass Recha und der Tempelherr nicht nur beide Christen, sondern auch Geschwister, aber gleichzeitig auch verwandt mit dem Sultan sind. Am Schluss des Dramas löst sich der Konflikt, indem die Familie als ein übergreifendes und auf Verwandtschaft beruhendes Modell einer Weltgesellschaft geradezu apotheotisch präsentiert wird.
Damit wird auf der Ebene der Figuren und ihrer Handlungen und Konflikte eingelöst, was Nathan schon zuvor in der Form einer Parabel als Modellfall eines Miteinanders aller drei Welt- und Schriftreligionen geschildert hatte. In seiner berühmten Ringparabel (die auf Boccaccios
Decamerone
zurückgeht) aus dem dritten Akt schildert Nathan diese drei Religionen als drei Ringe. Ein Vater besitzt einen Ring, der den Menschen vor Gott angenehm macht. Da er nicht weiß, welchem der drei Söhne er seinen Ring vererben soll, lässt er zwei Duplikate anfertigen, die so perfekt sind, dass sie weder untereinander noch vom Original unterschieden werden können. Jedem der Söhne sagt der Vater, er hätte den originalen Ring. Welches der echte Ring sei, würde sich in der Zukunft erweisen, wenn jeder danach trachten würde, gottgefällig zu leben.
Im Schlusstableau des Dramas, das vorgibt, alle Mitglieder der drei unterschiedlichen Religionen im Sinne der Parabel in einer Familienstruktur vereint zu sehen, bleibt ein unaufgelöster Rest. Alle Hauptfiguren sind miteinander verwandt, so unwahrscheinlich dies zunächst auch anmuten musste, nur einer steht abseits, und das ist die Titelfigur selbst. Nathan hat nicht nur seine jüdische Familie in einem Pogrom verloren, er ist auch nicht familiär mit den anderen Beteiligten verwandt, selbst seine Pflegetochter muss er am Ende aufgeben. Nathan wird so fast zu einer Moses-Figur der Aufklärung. Er führt alle anderen in den Zustand der Toleranz innerhalb der Familie und bleibt doch selbst von dieser Familie ausgeschlossen. So macht der
Nathan
zuletzt auch darauf aufmerksam: Die jüdische Aufklärung ist und bleibt ebenfalls ein Projekt.
41. Ist der Roman Psychologie oder die Psychologie ein Roman? Die Aufklärung entwickelt auch die Idee, dass der Mensch eine innereDimension hat und dass er mit der Welt in einem Innen/Außen-Verhältnis steht, das eben doch nicht ganz und vielleicht sogar ganz entscheidend nicht von Vernunft geprägt ist. Es entsteht die Idee einer Psyche als einer schwer durchschaubaren Gemengelage von Begierden und Trieben, von Interessen und einem häufig unbestimmten Willen. Und mit der Vorstellung der Psyche entsteht die Vorstellung einer Beschreibung der Psyche, entsteht die Psychologie – nicht in unserem heutigen Sinne, sondern in dem Sinne, den Erfahrungsreichtum des Menschen zu schildern, der sich in diesem Innen/Außen-Verhältnis abbildet.
Karl Philipp Moritz (1756–1793) wird dieses Interesse an der psychischen Dimension des Menschen
Erfahrungsseelenkunde
nennen und ein Magazin begründen, das er von 1783 bis zu seinem Tode 1793 in zehn Bänden herausgibt. Es ist das erste Mal, dass ein wissenschaftliches Organ sich in dieser Breite und so explizit jenen Problemen widmet, die wir heute unter das Dach der Psychologie subsumieren würden. Es ist die erste psychologische Zeitschrift. Und in ihr werden in vielen Fallgeschichten Beispiele geschildert, wo das Innen/Außen-Verhältnis in eine Krise geraten ist. Die größte Fallgeschichte findet sich aber – wenn man es so sehen will – in einem Roman, der in vier Teilen zwischen 1785 und 1790 veröffentlicht worden ist:
Anton Reiser
. Er führt ausdrücklich die Gattungsbezeichnung «Ein psychologischer Roman». Es ist ganz offensichtlich, dass Moritz wohl eigene Erfahrungen unterschiedlichster Art verarbeitet hat. Doch den Roman als autobiographisches und damit vielleicht – wie man meinen könnte – besonders authentisches psychologisches Dokument zu lesen, verschließt den Blick auf die eigentliche Leistung. Tatsächlich ist hier die
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