Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
moralisch zu definieren. Es ist die, es ist seine Moral, die den Bürger ausmacht. Das ist der eigentliche Stand, dem Odoardo angehört; deswegen legt er so viel Wert auf diese Form der Tugend, denn diese Tugend ist Ausdruck seiner bürgerlichen Moral. Das ist in der Tat eine völlig neue Vorstellung von Gesellschaft, in der die gesellschaftliche Ordnung nicht mehr durch Standeszugehörigkeit, sondern durch die Moral gekennzeichnet und auch garantiert wird. So lässt sich an diesem Drama beispielhaft auch ein großer gesellschaftlicher Umbruchsprozess ablesen. Indem sich das Bürgertum moralisch als Stand definiert, wird der Standesbegriff aufgeweicht. Das Bürgertum ist drauf und dran, seine spezifisch bürgerlichen Moralvorstellungen als Moralvorstellungen der gesamten Gesellschaft auszugeben. Gleichzeitig aber werden daher Moralvorstellungen anstelle der Standeszugehörigkeit zum Strukturmodell und Organisationsprinzip einer Gesellschaft.
Das ist die Welt Odoardos. Aber nun kommt Emilia ins Spiel und damit der Testfall der väterlichen, bürgerlichen Moral. Odoardo ruft aus: «Laß dich umarmen, meine Tochter!», nachdem Emilia erklärt hatte, dass sie sich der Gewalt nicht beugen wird: «Ich will doch sehen, wer mich hält –». Und dennoch ist sie wenige Minuten später tot. Warum? Das Problem ist nicht die Gewalt. Welche Gewalt der Fürst Emilia auch antun will, mit Gewalt wird er ihr moralisches Selbstverständnis nicht beeinträchtigen können. Er mag sie vergewaltigen, ihrer Ehre tut dies keinen Abbruch. Das erkennt man an der kurzen Wechselrede mit ihrem Vater:
ODOARDO: […] Auch du hast nur
ein
Leben zu verlieren.
EMILIA: Und nur
eine
Unschuld!
ODOARDO: Die über alle Gewalt erhaben ist. –
Und jetzt kommt’s. Gegen Gewalt ist das bürgerliche Selbstbewusstsein der Tochter immun. Aber nicht gegen dasjenige, was in ihr selbst als Disposition vorhanden ist. Und genau das ist der springendePunkt. Wenn das Bürgertum sich selbst über eine bürgerliche Moral definiert, so wird damit gerade etwas ausgeschlossen, was zum Menschsein mit dazugehört und was sich eben einer Moralisierung entzieht. Denn Emilia erwidert unmittelbar darauf:
EMILIA: Aber nicht über alle Verführung. – Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. –
Diese moralische Definition übersieht die Verführbarkeit des Menschen, der zwar moralisch handeln kann, aber auch Triebe hat, die der Moral entgegenlaufen, der also auch eine sexuelle Identität besitzt. Der Gewalt kann Emilia trotzen, aber nicht ihrer eigenen Verführbarkeit. An der Jungfernschaft entscheidet sich das bürgerliche Schicksal. Mit
Emilia Galotti
schreibt ein bürgerlicher Autor für ein bürgerliches Publikum und entwirft dabei ein Konzept einer moralischen fundierten Bürgerlichkeit, die er zugleich in ihren Restriktionen problematisiert. Mit dem Tod der Heldin, der das Drama zu einem Trauerspiel macht, wird diese Überlegung an das Publikum weitergegeben. Das ist der Kerngedanke des bürgerlichen Trauerspiels.
39. Welche Bedeutung hat die Vater-Tochter-Relation? Bleiben wir noch einen kurzen Moment bei diesen beiden Töchtern Sara Sampson und Emilia Galotti. Am Ende sind beide tot, wir haben es ja mit bürgerlichen Trauerspielen zu tun. Doch ihre Väter sind ganz unterschiedlich, der eine bringt seine Tochter um (
Emilia Galotti
), der andere adoptiert quasi noch den Mann, der die Tochter verführt und indirekt Mitschuld an ihrem Tod hat (
Miss Sara Sampson
). Und doch sind sie gar nicht so unterschiedlich und nehmen dieselbe Position in einem Gefüge ein, das sehr viel über die Vorstellungen von Mensch und Gesellschaft in der Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aussagt. Dem Vater steht die Tochter gegenüber. Auch hier ein deutlicher Unterschied. Die eine gibt sich dem Verführer hin und folgt ihm, wenn auch in der Hoffnung, er werde sie heiraten, die andere will lieber sterben, als sich hinzugeben. Und trotz der Unterschiede nehmen auch diese beiden Töchter ganz ähnliche Positionen in diesem familialen Gefüge ein, so dass man grundsätzlich fragen kann, welche Bedeutung das Vater-Tochter-Verhältnis für das bürgerlicheTrauerspiel hat. Noch bis zu Friedrich Hebbels (1813–1863) spätem bürgerlichen Trauerspiel
Maria Magdalene
(1843) spielt die Vater-Tochter-Beziehung eine große Rolle. Und man könnte diese Frage ausweiten und die vielen
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