Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Vater-Tochter-Verhältnisse, die es bis heute – und in jüngerer Zeit wohl eher im Roman von Autorinnen – gibt, auf ihre Funktion hin untersuchen, indem man fragt, was an diesem familiären Verhältnis speziell an gesellschaftlichen Problemen abgehandelt wird.
Lessings
Miss Sara Sampson
macht die Problematik anschaulich. Das ganze Stück spielt in einem Gasthaus. Dieser Handlungsort gewinnt im 18. Jahrhundert an fundamentaler Bedeutung für die Literatur und insbesondere für die Dramatik, weil er ein Ort der Passage und des Übergangs ist. Hier treffen unterschiedlichste Menschen auf ihren jeweiligen Wegen zusammen. Damit kann man an diesem Ort unwahrscheinliche Begegnungen wahrscheinlich werden lassen. Gasthäuser sind Orte sozialer Mobilität und insofern dafür prädestiniert, gesellschaftliche Strukturen aufzubrechen und gerade dadurch sichtbar zu machen. Sara ist ein wunderbares Beispiel dafür. Sie befindet sich – wie ihr selbst immer deutlicher bewusst wird – in einer dilemmatischen Situation. Sie nimmt nämlich eine Position ein, die für Frauen im patriarchalischen Weltbild nicht vorgesehen ist: der Ordnung des Vaters schon entflohen, aber noch nicht in die Ordnung des Ehemannes eingebunden. Sara findet sich zwischen zwei Ansprüchen wieder: zwischen dem Anspruch auf die Verwirklichung ihres Begehrens und ihrer Liebe sowie dem Anspruch auf soziale Anerkennung. Es ist zugleich eine Phase zwischen Intimität und Öffentlichkeit. Das ist der Ort für eine typische Transitionsphase, die umso unbefriedigender ist, je länger sie andauert, und die äußerst gefährlich ist. Denn Saras Konflikt als Tochter ist der Konflikt des bürgerlichen Subjekts als Mensch, dem es darum zu gehen hat, Subjektives und Objektives, erotische und moralische, psychische und soziale Ansprüche miteinander zu vereinbaren. Subjektsein besteht demnach im Idealfall in der Fähigkeit, den je eigenen Anspruch mit dem der anderen, der Gesellschaft, vermitteln zu können. Das Subjekt erscheint als Vermittlungsmodell, mithin als Einheit einer Differenz. Was das Modell gefährden kann, gilt als Problem, das sowohl anthropologisch als auch gesellschaftstheoretisch durchdacht sein will. Dafür gibt es Literatur.
40. Warum ist die jüdische Aufklärung so zentral? Aufklärung bedeutet nicht nur, die Vernunft als zentrale anthropologische Kategorie zu etablieren, sondern auch, sie als Prinzip der menschlichen Gesellschaft durchzusetzen. Aufklärung ist nicht nur ein philosophisches, sondern auch ein gesellschaftliches Projekt. Und weil die gesellschaftlichen Träger dieses Projekts Bürger sind, ist Aufklärung immer auch ein bürgerliches Projekt. Zu einem Testfall dieses Projekts wird insbesondere das Verhältnis von Deutschen und Juden. In diesem Sinne lässt sich von einer jüdischen Aufklärung in einem mehrfachen Sinne sprechen. Damit ist nicht nur, aber auch gemeint, dass viele jüdische Intellektuelle zu den wesentlichen Trägern der Aufklärung geworden sind, so zum Beispiel Moses Mendelssohn (1729–1786), der in Berlin zu einem Wegbereiter der Haskala, also der typischen, von Berlin ausgehenden jüdischen Aufklärungsbewegung geworden ist. Gemeint ist damit auch, dass Aufklärung als Anti-Antisemitismus immer auch jüdische Aufklärung ist. Besonders im Kontext der jüdischen Aufklärung in diesem Sinne entwickelt und profiliert das Aufklärungsdenken den Gedanken der Toleranz gerade in jenen Fragen, die Deutsche und Juden entzweien können, nämlich in Fragen der Religion.
Es nimmt daher nicht wunder, dass sich Lessing dieser Thematik gleich zweimal angenommen hat, einmal sehr direkt in seinem frühen Drama
Die Juden
aus dem Jahre 1749 (uraufgeführt 1754) und in seinem späten Drama, das die Religionsproblematik aus aufgeklärter Perspektive grundsätzlich aufgreift,
Nathan der Weise
, aus dem Jahre 1779. Das erste Drama, ein Lustspiel, spielt mit den rassistischen Vorurteilen, um sie dann umso wirkungsvoller desavouieren zu können. Die Übeltäter waren nur als Juden verkleidet, der eigentliche Retter ist jedoch tatsächlich Jude. Die Vorurteile werden entlarvt, die soziale Trennung bleibt aber stabil.
Mit der Figur des Nathan setzt Lessing seinem Freund und gemeinsamen Mitstreiter im Projekt der Aufklärung, Moses Mendelssohn, ein Denkmal. Es geht nicht nur um das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden, sondern um das Verhältnis der Religionen zueinander. Das Stück spielt zur Zeit des dritten Kreuzzuges zwischen
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