Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Vater-Tochter-Beziehung eher die Stabilisierung der Gesellschaft über Generationen hinweg problematisiert, geht es bei der Vater-Sohn-Beziehung um den Generationenkonflikt, um denVersuch der Jungen, gegen die Alten zu rebellieren. In ganz besonderer Weise gilt dies auch für Lenz, der 1771 sein Studium in Königsberg gegen den Willen des Vaters abbricht und nach Straßburg geht, wo er nach und nach mit den anderen Stürmern und Drängern in Kontakt kommt, von denen er auch einer wird, vielleicht sogar neben Goethe die markanteste Gestalt dieser Bewegung. Nach einigen Irrungen und Wirrungen kommt Lenz 1776 nach Weimar, wo er sich die Unterstützung Goethes erhofft. Doch so einfach ist dies nicht. Es muss etwas Eigenartiges passiert sein, was man später als Eselei von Lenz abtut, denn im Dezember 1776 wird Lenz aus Weimar ausgewiesen. Lenz reist viel umher und kommt bis nach Russland. In Moskau wird er schließlich am 24. Mai 1792 tot auf der Straße liegend aufgefunden.
Mit seinem Drama
Der Hofmeister
hat Lenz einen Typus aufgegriffen, der ein charakteristisches Schicksal der jungen Intellektuellen zu seiner Zeit darstellt. Ein Hofmeister war ein schlecht bezahlter Hauslehrer, der seine soziale Inferiorität und damit die Spannung zwischen intellektuellem Anspruch und sozialer Wirklichkeit immer wieder schmerzlich und demütigend zu spüren bekam. Läuffer, die Hauptfigur, bekommt eine Anstellung als Hofmeister bei dem Major von Berg. Dieser hat zwei Kinder, für deren Erziehung er verantwortlich ist: Leopold, dessen Intellekt überschaubar und der obendrein auch noch faul ist, und Gustchen, der Augenstern ihres Vaters, des Majors. Gustchen und Fritz, Cousine und Cousin, sind ineinander verliebt. Doch Gustchen wird schwanger von ihrem Hofmeister. Für die Majorsfamilie eine absolute Katastrophe. Zum vierten Akt springt die Handlungszeit um ein Jahr. Läuffer ist in der Stadtschule untergekommen. Gustchen ist verschwunden. Sie lebt im Wald bei der blinden Marthe, wo sie ihr Kind zur Welt bringt. Und dann beginnt die Reihe der Wiederfindungen: Der Major findet Läuffer und will ihn umbringen. Schließlich findet er auch sein Gustchen wieder, das wiederum Läuffer wiederfindet, woraufhin sich Läuffer kastriert. Läuffer beginnt eine Beziehung mit Lise, die ihn auch kastriert akzeptiert. Fritz verzeiht Gustchen und nimmt Läuffers Kind an, will aber bei dessen Erziehung auf keinen Hofmeister mehr zurückgreifen.
Im Drama finden sich Elemente des Sturm-und-Drang-Dramas und des bürgerlichen Trauerspiels. Der Vater-Sohn-Konflikt spielt genauso eine Rolle wie das Vater-Tochter-Verhältnis. Die Verbindung dieser beiden Dramenelemente zeigt an, dass es hier um eine umfassenderesoziale Diagnose geht. Das Ende ist so unwahrscheinlich, dass es sich selbst ironisiert. Damit wird jene Ironie wieder aufgegriffen, die sich schon im zweiten Teil des Titels des Stückes (
Der Hofmeister oder die Vortheile der Privaterziehung
) ausdrückt. Vor allem aber die Selbstkastration ist ein extrem ironisches Element. Läuffer hilft sich selbst, indem er sich kastriert, und diese Selbstverstümmelung wird offenbar sogar noch sozial honoriert, zumindest akzeptiert. Die Kastration ist in mehrfacher Hinsicht eine Selbstbeschneidung des Menschen. Was immer auch physisch damit gemeint sein könnte, so ist es doch auch die abstruse Idee, man könnte einen wesentlichen Bestandteil des Menschseins von sich selbst abschneiden. Die Lösung, die schließlich präsentiert wird, hat auch etwas Tragisches, und man könnte das Stück gerade deswegen auch eine Tragikomödie nennen.
49. Sind Schillers
Räuber
ein klassisches Drama? Schiller kommt zu spät. Denn er wurde zu spät geboren, erst 1759 (gest. 1805). Schiller war Schwabe und Untertan des Kurfürsten Karl Eugen. Dieser befiehlt den Eltern, den jungen Schiller auf die Karlsschule zu geben, eine militärische Drillanstalt. Schon früh hatte Schiller literarische Interessen. Als angehender Arzt muss er promovieren, aber erst die dritte Dissertation wird akzeptiert. Bereits mit dieser Arbeit stürzt sich Schiller mitten hinein in die aktuellen Debatten und großen philosophischen und nicht zuletzt anthropologischen Fragen, zum Beispiel nach der Einschätzung eines dualistischen Modells von Geist und Körper, von Sinnlichkeit und Sittlichkeit, von Subjekt und Objekt. All diese Fragen fließen direkt in die frühen Texte Schillers ein, insbesondere in sein Erstlingsdrama
Die Räuber
. Dieses Drama hat
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