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Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur

Titel: Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Jahraus
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Äußerungen schwingt auch die Verbitterung mit, die Schiller in seinem Kampf um schriftstellerische Anerkennung angehäuft hat. Beide täuschen sich im jeweils anderen, weil sie nicht sehen, wie sich der andere jeweils weiterentwickelt hat und wie sich ihre Ideen aufeinander zubewegen.
    Erst im Jahr 1794 kommt es zu einem engeren Kontakt, als Schiller Goethe einlädt, an seiner Zeitschrift
Die Horen
mitzuwirken, und Goethe zusagt. Am 20. Juli 1794 ist es so weit; es findet jenes berühmte Gespräch zwischen beiden nach einer Sitzung der «Naturforschenden Gesellschaft» zu Jena statt. Beide unterhalten sich über die Urpflanze. Auch noch dieses Gespräch ist von gegenseitiger Distanznahme geprägt. Goethe schildert es später in seinem Text
Glückliches Ereignis
:
    Wir gelangten zu seinem Hause, das Gespräch lockte mich hinein; da trug ich die Metamorphose der Pflanzen lebhaft vor und ließ, mit manchen charakteristischen Federstrichen, eine symbolische Pflanze vor seinen Augen entstehen. Er vernahm und schaute das alles mit großer Teilnahme, mit entschiedener Fassungskraft; als ich aber geendet, schüttelte er den Kopf undsagte: «Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee». Ich stutzte, verdrießlich einigermaßen; denn der Punkt, der uns trennte, war dadurch aufs strengste bezeichnet. Die Behauptung aus Anmut und Würde fiel mir wieder ein, der alte Groll wollte sich regen; ich nahm mich aber zusammen und versetzte: «Das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe».
    Nun kommen Idee und Erfahrung zusammen, und fast scheint dieses Zusammenkommen eine Illustration zu sein, was der Philosoph Immanuel Kant, den Schiller bis dahin intensiv rezipiert hatte, so ausdrückt: «Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind» (KrV B75). Tatsächlich haben aber zwei intellektuelle Naturen, die sich komplementär zueinander verhalten und sich daher so wunderbar ergänzen, zueinandergefunden. Schiller wird dieses Verhältnis sogar in eine Dichtungstheorie verwandeln. In seinem großen Aufsatz
Über naive und sentimentalische Dichtung
aus dem Jahre 1795 beschreibt er zwei entgegengesetzte Arten, schriftstellerisch mit der Gegenwart umzugehen: entweder naiv, also die Differenz von Natur und Kultur ausblendend, oder sentimentalisch, sich an dieser Differenz abarbeitend, ohne sie überwinden zu können. Schiller leistet damit eine Kulturkritik seiner Zeit, aber er beschreibt auch das Verhältnis seines Dichtungsverständnisses (sentimentalisch) zu dem Goethes (naiv). 1796 und 1797 arbeiten beide eng zusammen, sie verfassen gemeinsam
Xenien
(zum Teil bitterböse, kulturkritische Polemiken in der Form von Distichen) und parallel ihre Balladen (1797 wird auch das Balladenjahr genannt).
    In diesen Jahren entsteht die Kernidee der Weimarer Klassik, auch wenn diese erst sehr viel später so genannt werden wird. Die Zusammenarbeit von Goethe und Schiller erstreckt sich auf alle Felder ihrer Produktion. Kaum ein Text des einen wird nicht vom anderen aufmerksam gelesen und sensibel und kritisch kommentiert. Auch wenn sie seit 1799 wieder Nachbarn in Weimar sind – zwischen Goethes Haus am Frauenplan und Schillers an der Esplanade liegt nicht einmal ein halber Kilometer –, schreiben sie sich regelmäßig. Der Goethe-Schiller-Briefwechsel, erstmals herausgegeben 1828/29, ist ein Dokument ihrer Freundschaft und das Protokoll der Weimarer Klassik. Die Zusammenarbeit endet mit Schillers Tod 1805. Und Goethe weiß, was er verloren hat. An seinen Freund Carl FriedrichZelter (1758–1832) schreibt er: «Ich verliere nun einen Freund und in demselben die Hälfte meines Daseins» (1.6.1805).
    Wenn man die Grundidee der Weimarer Klassik karikieren wollte, so eignet sich dazu kein Spruch besser als die ersten beiden Verse von Goethes Gedicht
Das Göttliche
aus dem Jahre 1783: «Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.» Es geht in der Weimarer Klassik um die literarische Entfaltung eines Gedankens, den schon der Deutsche Idealismus vorbereitet hatte, nämlich dass der Mensch immer dann ganz Mensch ist, wenn er sich als Mensch begreift, und zwar vor allem dort, wo er in einem Spannungsfeld individueller Bedürfnisse und gesellschaftlicher Ansprüche steht. Im Zentrum stehen also ein neues Menschenbild und seine literarische Propaganda.
    Literaturgeschichtlich bringen die beiden damit etwas Erstaunliches zuwege. Sie entwickeln nämlich eine Vorstellung von einer

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