Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
mustergültigen und mustergebenden Literatur. Der Terminus Klassik kommt aus dem Lateinischen und bedeutet zunächst einmal nur die Zugehörigkeit zur höchsten Steuerklasse. Goethe und Schiller begreifen sich tatsächlich als diejenigen, die den Gipfelpunkt literarischer Entwicklungen erreicht haben, weil sie die grundlegenden Probleme in vollendeter Form in ihren Texten abhandeln. Das Entscheidende aber ist, dass sie diese Vorstellung vom normativ Höchststehenden auch an ihre Rezeption weitervermitteln. Man hat Goethe und Schiller als Klassiker bis heute so verstanden, wie sie sich selbst verstanden wissen wollten: als Hochzeit der deutschen Literaturgeschichte. Dabei passiert etwas Verblüffendes: Die Normen, die sie in ihren Texten propagieren, werden zu jenen Normen, unter denen die Texte selbst gelesen werden. Und so wird aus der Weimarer Klassik die wichtigste deutsche Literaturepoche.
Dabei tut man sich schwer, die Weimarer Klassik als Literaturepoche zu bezeichnen. Sie besteht gerade mal aus zwei Autoren; und sie besteht gerade mal ein gutes Jahrzehnt lang. Das spricht nicht für den Begriff der Epoche. Insofern sitzen wir dem normativen Programm der Weimarer Klassik selbst auf, wenn wir sie als Epoche und vielleicht sogar als Spitzenepoche der deutschen Literaturgeschichte bezeichnen. Die Weimarer Klassik war ein Literaturprogramm und eine literarische Ideologie im Rahmen eines größeren Feldes von 1770 bis 1830. Diese Epoche könnte man mit Blick auf Goethes Lebensdaten und seine Schreibzeit die Goethezeit nennen, wie dies auch schon mannigfaltig in der Literaturgeschichtsschreibung(Hermann August Korff) geschehen ist. Die Leistung Goethes und Schillers, als sie die Weimarer Klassik erfanden, wird damit in nichts geschmälert.
51. Warum ist die
Iphigenie
verteufelt human? Goethes Drama
Iphigenie
wird heute als Programmschrift der deutschen Klassik gelesen. Nirgendwo sonst kommt die Idee der Klassik, kommt dieses von ihr propagierte humanistische Menschenbild im Zusammenspiel vom Guten, Wahren und Schönen so deutlich zum Ausdruck wie in diesem Drama. Doch auch ewige Wahrheiten über den Menschen sind sehr zeitgebunden. Berühmt ist jener Satz Goethes, den er an seine Vertraute Frau von Stein am 6. März 1779 schrieb: «der König von Tauris [eine der Hauptfiguren im Drama] soll reden als wenn kein Strumpfwürker in Apolda hungerte».
Goethe begann mit der
Iphigenie
schon 1779, also noch vor seiner Italienreise, die er im September 1786 antrat. Die
Iphigenie
, die wir heute kennen, ist das Produkt dieser Italienreise, nicht zuletzt auch der Erfahrung des Antiken, die Goethe auf dieser Reise machen konnte. Was er jedoch als antike Welt, als antike Kunst und antikes Gedankengut wahrgenommen hat, war schon vorgeprägt durch Autoren wie zum Beispiel Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), einen deutschen Gelehrten mit kunstgeschichtlichen und kunsttheoretischen Interessen, der in seinen Überlegungen die antike Kunst als zeitenthobenes Beispiel von Kunst darstellte, weil sie erstmalig und zugleich für alle späteren Zeiten mustergültig das Prinzip (das mittlerweile zum Sprichwort verkommen ist) von edler Einfalt und stiller Größe verwirklicht.
Goethe selbst nimmt sich das Drama von Euripides (der im fünften vorchristlichen Jahrhundert lebte)
Iphigenie bei den Tauriern
zur Vorlage, verändert aber ganz grundlegend die mythologische Grundstruktur und das Konfliktpotenzial. Vor allem wird er, wie Thomas Mann es später ausdrücken wird, den Mythos humanisieren. Tatsächlich lässt sich das gesamte Drama als ein großer Spannungsbogen von einer mythischen und unmenschlichen hin zu einer rationalen und menschlichen Welt lesen. Deutlichster Ausdruck dafür ist ein Fluch, der zu Beginn des Dramas über allen Figuren liegt und der sich zum Schluss des Dramas auflösen wird. Der Dramenstoff selbst ist Teil des Tantalidenmythos, der von einem sich fortzeugenden Fluch erzählt. Der Stammvater frevelt gegen die Götter, die dahereinen Fluch über sein gesamtes Geschlecht aussprechen, dem zufolge von Generation zu Generation immer ein Mitglied ein anderes Mitglied der Familie töten muss. Im Drama selbst wird Iphigenie in eine Situation kommen, in der sie wiederum ihren Bruder Orest, der sich nach dem Mord an seiner Mutter im Wahnsinn zu den Taurern flüchtet, umbringen müsste. Das Orakel hat Orest verkündet, er könne den Fluch nur lösen und dem Wahnsinn, der ihn in Gestalt der Furien verfolgt, nur
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