Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Goethes einzigartiger Karriere sichtbar. Goethe gehörte wie die anderen Stürmer und Dränger einer Generation an, die ab den 1770er Jahren in einem Alter um die Mitte 20 war und massiv gegen in ihren Augen überkommene Literaturvorstellungen und insbesondere eine rigide Regelpoetik rebellierte, die sie nicht nur durch Gottsched vorgegeben, sondern vor allem durch die zeitgenössische französische Dramatik und insbesondere die hohen Tragödien (haute tragédie) verwirklicht sah. Ab 1770 studierte Goethe in Straßburg Jura. Straßburg wurde zu einem Ort, an dem sich die Stürmer und Dränger trafen, gemeinsam studierten, gemeinsam dichteten, an dem sich die Jugendbewegung des Sturm und Drang formierte. Doch schon 1775 ging Goethe nach Weimar und wurde Staatsmann. Die Phase des Sturm und Drang, so eruptiv sie aufgetreten war, so schnell ging sie auch zu Ende, für die einen früher, für die anderen etwas später.
Aber es wird auch an der Suche der Stürmer und Dränger nach Vorbildern sichtbar. Goethe hatte eine Feier zu Ehren von William Shakespeare an dessen Namenstag am 14. Oktober 1771 in Frankfurt veranstaltet; gleichzeitig hatte er eine Shakespeare-Feier in Straßburginitiiert und den dortigen Freunden auch seinen Text
Zum Schäkespears Tag
geschickt, damit er dort – fast wie ein Sendschreiben – verlesen werde. Shakespeare lieferte den Autoren ihre Vorstellung vom Theater und Drama. Obschon eine ganze Reihe von Autoren, insbesondere natürlich Johann Gottfried Herder (1744–1803) und Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792), sich mehrfach theoretisch-programmatisch geäußert hat, lag es in der Natur der Sache der Stürmer und Dränger, ihr Publikum anders und direkter, nämlich über eine neue Form von Drama und Theater, anzusprechen. Gerade das Drama hatte es in seiner langen Tradition geschafft, zu der herausragenden und – normativ gesehen – am höchsten bewerteten Gattung (insbesondere in der Form der Tragödie) zu werden. Das ist das Feindbild der Stürmer und Dränger. Es ging ihnen um nichts weniger als um eine Abkehr von den überkommenen Mustern, ja sogar um eine gänzlich andere Vorstellung davon, wie Literatur geschrieben wird. Der Regelbruch war nur die eine, negative Seite der Medaille; die andere, positive Seite benannte man mit dem Terminus, der zugleich Leitbild war: Originalität. Und daraus entstand ein grundlegendes Problem. Man wollte original sein, alle Vorbilder über Bord werfen, aber an welchem Vorbild sollte man sich orientieren, wenn es darum ging, sich von Vorbildern freizumachen?
Im Zentrum dieser Vorstellung findet man den Begriff des Genies, der die ganze Problematik noch einmal widerspiegelt. Ein Genie ist ein Schöpfer, der nur aus sich selbst heraus Originales schafft, für das es schon deshalb keine Regeln geben kann, weil es autonom und original, also völlig neu, individuell und produktiv ist, sich somit nicht in ein vorhandenes und überkommenes Schema pressen lässt und schon gar nicht aus einer solchen Tradition heraus verstanden werden kann.
Das Genie ist ein Originalgenie, originell jedoch ist der Begriff des Genies nicht. Insbesondere der englische Autor Edward Young (1683–1765) hatte den Begriff des Genies ausgearbeitet. Die Stürmer und Dränger haben diesen Begriff des Genies als Selbstbeschreibung ihres eigenen literarischen Schaffens und ihres schriftstellerischen Selbstverständnisses so extensiv übernommen, dass man nicht nur von einer Geniesucht sprach, sondern dass sich auch bald eine kritische Gegenbewegung gegen diese Begriffsverwendung bildete, die auf die inflationäre Aushöhlung dieser Vorstellung aufmerksam machte.
Für die Stürmer und Dränger war nun aber auch Shakespeareganz fraglos ein Genie, ein Vorbild an Vorbildlosigkeit, dessen Dramatik man als Meilenstein und als Epochenwende begriff, an der man selbst mitwirken wollte, und den man wunderbar gegen die französische Dramatik ausspielen konnte. Wie Shakespeare wollte man schaffen und wie er ein Genie sein. Dazu musste man Shakespeare vereinnahmen, so dass er nicht Vorbild, sondern nur einer unter anderen Stürmern und Drängern war, zum anderen aber – und das scheint die eigentliche Denkfigur gewesen sein – versuchte man Shakespeare als Vorbild eigener Art darzustellen. Shakespeare nachzuahmen ist deswegen keine Nachahmung, weil Shakespeare und sein Schreiben schlicht Natur sind. Oder, wie es im erwähnten Text von Goethe
Zum Schäkespears Tag
heißt: «Und ich rufe Natur!
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