Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Kindsmord auseinandergesetzt hat, war sicherlich Goethe. Die Hinrichtung der Kindsmörderin Susanna Margareta Brandt in Frankfurt im Jahr 1772 hatte er vor Augen. Auch der Jurist Goethe hat das Thema zumindest gestreift. Später als Staatsrat im Fürstentum Sachsen-Weimar-Eisenach war er mit einem weiteren konkreten Fall befasst, indem er in der Frage der Strafzumessung sehr schwankte und letztlich mit seinem Verhalten den Ausschlag für die Todesstrafe gegeben hat.
Wo immer es um Kindsmord in der Literatur geht, geht es um mehr als um ein besonders abstoßendes Verbrechen, es geht immer auch um die Frage, welche Bedeutung Sexualität für das Subjekt hat und wie sich diese Bedeutung auf eine soziale Ordnung auswirkt oder auswirken sollte. Goethes Drama
Faust. Der Tragödie erster Teil
aus dem Jahre 1808 ist ein sehr klares Beispiel für die weiterreichenden Dimensionen dieses Problems. Die Tragödie um das arme Gretchen ist eingebunden in einen großen männlichen Selbstfindungsprozess, der nicht nur vom Teufel begleitet und als Wette mit Gott (im Rahmen) und dem Menschen, also Faust selbst (in der Binnengeschichte), inszeniert, sondern auch als anthropologisches Experiment entfaltet wird. Der spätere Goethe konnte diese Thematik in seinem
Faust
, dessen Frage- und Problemhorizont nun doch weiter gespannt ist als derjenige der früheren Sturm-und-Drang-Dramen, aufgreifen, weil er das Erbe dieses Motivs seit seinen Sturm-und-Drang-Zeiten über seinen sogenannten
Urfaust
bis ins spätere Werk mitgeführt hat. Im Kontext des Sturm und Drang ragt neben Texten von Lenz, Bürger, Schiller ein Drama heraus, das den Kindsmord und seine psychosozialen Voraussetzungen zentral fokussiert, nämlich das Drama
Die Kindermörderin
von Heinrich Leopold Wagner (1747–1779) aus dem Jahre 1776, der wie Goethe in Straßburg die Rechte studierte, dort zum Kreis der Stürmer und Dränger gehörte und dann Anwalt in Frankfurt wurde, wo er im Alter von nur 32 Jahren an Lungentuberkulose verstarb. In Wagners sechsaktigem Drama wird Evchen, die gegen den Willen des Vaters mit der Mutter einen Ball besucht, auf dem Heimweg in einem Bordell von einem Offizier,von Gröningseck, verführt oder fast schon vergewaltigt, nachdem dieser die Mutter mit einem Schlaftrunk stillgestellt hat. Evchen wird schwanger, und sie hofft, dass von Gröningseck sie heiratet, was dieser auch verspricht. Doch er muss zunächst auf eine Dienstreise. In seiner Abwesenheit erhält Evchen einen Brief, in dem sich ein Offizierskollege von von Gröningseck als dieser ausgibt und Evchen schreibt, dass dieser sie nicht liebe und es nicht zur Hochzeit kommen werde. Die Schwangerschaft schreitet voran, die häuslichen Verhältnisse werden prekär, und Evchen geht in eine andere Stadt, um ihr Kind bei einer Lohnwäscherin zu gebären. Evchen sorgt sich sehr um ihr Kind und will eine gute Mutter sein, doch als sie erfährt, dass ihre Mutter vor Gram gestorben ist und ihr Vater eine Belohnung für Informationen über sie ausgesetzt hat, tötet sie ihr Kind mit einer Stricknadel. Schließlich kommt von Gröningseck, die Intrige wird aufgedeckt, aber das Einzige, was der tatsächlich liebende und heiratswillige Verführer noch tun kann, ist, um Gnade für Evchen zu bitten, die der Todesstrafe entgegenblickt.
Dieses Drama macht deutlich: Kindsmord, eine ungewollte Schwangerschaft und Verführung bzw. Vergewaltigung gehen nahezu immer miteinander einher. Die Bestrafung des Kindsmords ist immer auch eine stillschweigende Bestrafung ungewollter Schwangerschaft und somit eine moralische Ächtung der isolierten Frau im Gewande eines extremen juristischen Urteils. Hier wird eine Gesellschaftsstruktur bloßgelegt, in der ein Vergehen des Mannes unweigerlich zur extremen Bestrafung der Frau führt, weil biologische Ursache und soziale Verantwortung nicht zur Deckung gebracht werden. An der Sexualität wird die Möglichkeit oder Unmöglichkeit subjektiver Selbstbestimmung auf besonders drastische Weise offenbar.
48. Soll sich ein Kraftkerl kastrieren? Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) war neben Goethe wohl einer der begabtesten Autoren des Sturm und Drang, der nicht nur ein Gespür für die dramatische Gestaltung von Stoffen hatte, sondern auch grundlegende dramentheoretische Überlegungen anstellte. Im bürgerlichen Trauerspiel geht es vor allem um die Vater-Tochter-Beziehung, im Sturm-und-Drang-Drama geht es vor allem um die Vater-Sohn-Beziehung. Wird mit der
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