Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
entkommen, wenn er die Schwester nach Hause führt. Alle glauben, damit ist die Schwester Apolls, Diana, also das Götterbild, das Iphigenie bei den Taurern pflegt, gemeint.
Die Geschwister Iphigenie und Orest müssen sich daher erst wechselseitig zu erkennen geben, bevor sie gemeinsam handeln können. Der Mensch braucht eine wahre Identität, bevor er überhaupt erst mit anderen Menschen in Kontakt treten kann. Wahrheit ist eine intersubjektive Aufgabe, deren Lösung überhaupt erst die Identität des Subjekts garantiert. «Zwischen uns sei Wahrheit», sagt Orest. Auch dies ist ein klassischer Kerngedanke des Humanismus dieser Zeit. Doch zunächst nutzen die Geschwister ihr Wiederkennen (Anagnorisis), um einen Plan zu schmieden, der ihnen hilft, Thoas zu betrügen und das Götterbild zu stehlen. Iphigenie ist unwohl dabei, denn Thoas hat das nicht verdient, immerhin hat er sie immer ausgezeichnet behandelt. Aber mehr noch stört sie, dass die Hilfe, die sie ihrem Bruder gewährt, auf Betrug beruht. Sie wird sich klar darüber, dass das nicht ihr Weg sein kann. Das heißt aber auch, dass sie sich selbst ganz grundsätzlich über ihr Götter- und ihr Menschenbild klar werden muss. Diese Entscheidungssituation wird immer wieder mit dem Gegensatz von Pflicht und Neigung beschrieben. Der humanistische Kerngedanke bestünde dann darin, dass der Mensch sich in die Lage bringen müsse, Pflicht und Neigung gleichermaßen zu erfüllen und beide Anforderungen miteinander zur Deckung zu bringen.
Genau hier beginnt nun das klassische Humanitätsprogramm zu greifen. Und Thoas wird von Iphigenie zum Gegenstand dieses Programms gemacht. An ihm muss sich das Humanitätsprogramm bewähren. Thoas ist in den Augen der Griechen, zu denen Iphigenie und ihre Familie gehören, ein Barbar, einer also, der außerhalb ihrer Kultur steht. Gerade aber über die eigene Kultur hinaus muss sich Humanität beweisen lassen. Iphigenie entschließt sich zu einem riskanten Schritt, zu einer «unerhörten Tat», wie sie selbst sagt. Undgerade als Frau reklamiert sie das Recht zu einer solchen Tat für sich: Sie verrät Thoas den Diebstahls- und den Fluchtplan. Nun ist aber dieser Verrat selbst eine humanitäre Tat, weil sie einen schlimmen Frevel verhindert. Es ist Iphigenies humanistisches Kalkül, dass eine humanistische Tat zugleich die Voraussetzungen des Frevels auflöst. Allen wird klar: Orest muss nicht die göttliche Schwester heimführen, sondern seine. Die richtige Perspektive bezieht sich auf den Menschen, nicht auf die Götter.
Thoas also wird ihrem humanistischen Erziehungsprogramm unterworfen, und tatsächlich: Er lässt sich als Barbar humanisieren. Mit seinem «So geht» ist er am Ende des Dramas bereit, Iphigenie mit Bruder und dessen Freund ziehen zu lassen. Doch Iphigenie will nicht nur, dass Thoas dies akzeptiert, sondern dass er einsieht, dass dies selbst ein humanitärer und humanistischer Akt ist. Iphigenie kann Thoas überzeugen, und im allerletzten Vers lässt er sie dann freiwillig mit den Worten: «Lebt wohl!» ziehen. Ende gut, alles gut – so könnte man sagen, aber das Drama verschleiert die Folgekosten dieses humanistischen Erziehungsprojekts. Die Familie ist wiedervereint und kehrt gemeinsam in die Heimat zurück, die Ehe jedoch zwischen Thoas und Iphigenie ist nicht zustande gekommen, das ist der Preis, der für diese Lösung zu zahlen war.
52. Welche Funktion hat die Titelheldin in der Goethezeit? Schon Lessing hatte drei Titelheldinnen,
Miss Sara Sampson
,
Minna von Barnhelm
und
Emilia Galotti
, auf die Bühne gebracht. Im engeren Kontext der Klassik scheint sich diese Tendenz zu verstärken, wenn man vor allem auch auf die ‹klassischen› Phasen der Dramenproduktionen von Goethe und Schiller blickt. So sind in diesem Zusammenhang neben der
Iphigenie
(1787) auch Goethes
Stella
(1776, zweite Fassung 1806) oder
Die natürliche Tochter
(1803), Schillers
Maria Stuart
(1800) und
Die Jungfrau von Orleans
(1801), daneben aber auch Kleists
Penthesilea
(1808) und – mit Einschränkungen –
Das Käthchen von Heilbronn
(1810) zu nennen.
Man darf sich nicht täuschen lassen: Dass Frauen verstärkt als Titelheldinnen auftreten, ist kein Beweis für eine irgendwie geartete Emanzipation. Nach wie vor sind die ideologischen Rahmenbedingungen, in denen sich die Konflikte der Literatur um 1800 abspielen, patriarchalisch geprägt und dominiert. Aber ein Hinweis auf eine veränderte Anthropologie, auf ein verändertes
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