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Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur

Titel: Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Jahraus
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Selbstkasteiungen geprägt war, während Maria Stuart die Möglichkeiten, die ihr ihre Weiblichkeit geboten haben, immer voll ausgeschöpft habe, auch wenn sie Opfer männlicher Gewalt wurde. Am Ende des Dramas wird Maria in einem politischen Prozess zum Tode verurteilt, ein Prozess, den Elisabeth inszeniert, um ihre eigene Herrschaft abzusichern. Maria wird zur klassischen Heldin, indem sie ihr Urteil freiwillig und selbstbestimmt annimmt.
    53. Was ist ein Bildungsroman? Welch gigantisches Lob hatte der Literaturkritiker Friedrich Schlegel 1798 in dem Fragment Nr. 296 seiner Zeitschrift
Athenäum
über Goethes Roman
Wilhelm Meisters Lehrjahre
ausgesprochen! Es heißt dort: «Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre, und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters.» Wie ordnet sich dieser Roman in diese Reihe ein? Oder anders gefragt: Welche Tendenz ist denn nun so epochal bedeutsam in Goethes Roman
Wilhelm Meisters Lehrjahre
ausgedrückt worden?
    Für die Zeitgenossen und vor allem für eine jüngere Generation von Autoren, die man später als Romantiker bezeichnen wird, war dieser Roman nicht zuletzt deshalb so faszinierend, auch wenn spätere Urteile nicht immer so positiv ausfielen, weil er eine zentrale Idee dieser Zeit zum Ausdruck brachte: die Idee der Bildung. Bildung bedeutet, dass ein Subjekt immer erst ein Subjekt
werden
muss. Dieser Entwicklungsgedanke findet sich in einer ganzen Reihe von Roman-Traditionen über die wichtigsten europäischen Literaturen seit dem 18. Jahrhundert wieder. Entwicklung hat auch eine soziale Dimension. Das Individuum muss sich auch in sein soziales Umfeld hinein entwickeln, es muss Mitglied einer Gesellschaft werden. Und gerade die Literatur übernimmt die Aufgabe, die Bedingungen dieser Entwicklung zu reflektieren.
    Um 1800 entwickelt sich die spezifische Form des Bildungsromans. Bildung meint dabei einen Prozess, der von einem Bild angeleitet wird. Und das Bild meint dabei ein Selbstbild des Individuums, das jedem Menschen innewohnt und von Anfang an den potenziellen Motor seiner Persönlichkeitsentwicklung abgibt. Bildung ist jener Prozess, mit dem der Mensch jenes Bild, das er schon in sich trägt, an sich selbst verwirklicht. Dabei sind immer individuelle und gesellschaftliche, psychische und soziale Faktoren mit im Spiel, wobei im Bildungsroman um 1800 das innere Moment überwiegt. Es geht um die Sozialisation des Menschen: Wie wird aus dem Subjekt ein wertvolles Mitglied der Gemeinschaft? Im Realismus wird sich die Frage verschieben und dann eher lauten: Wie wird aus einem Individuum ein wertvolles Mitglied der – vor allem bürgerlichen – Gesellschaft? So zum Beispiel in Gottfried Kellers Bildungsroman
Der grüne Heinrich
. Genau dieser Prozess muss also eine innere Entwicklung und eine äußere Welt gleichzeitig entfalten, und für diese Aufgabe ist der Roman geradezu prädestiniert. Dieser Gesamtkomplexfindet in Goethes
Wilhelm Meister
seinen beispielhaften Ausdruck. Dieser Roman wird zum Muster des Bildungsromans. Obschon Goethes
Wilhelm Meister
nicht der erste deutsche Roman ist, den man als Bildungsroman bezeichnen kann, ist er doch derjenige Roman, von dem aus die Idee überhaupt erst ihren mustergültigen Ausdruck gewinnt. Als Vorläufer wären immerhin Wielands Roman
Agathon
zu nennen (siehe Frage 35) oder Moritz’
Anton Reiser
(siehe Frage 41).
    Der
Wilhelm Meister
sollte zuerst ein Theaterroman werden – 1777 hatte Goethe begonnen, ihn zu schreiben:
Wilhelm Meisters theatralische Sendung
. Der Plan umfasste zwölf Bücher, sechs davon waren schon fertiggestellt. Sicherlich hat Goethes italienische Reise seit 1786 wesentlich dazu beigetragen, diese Konzeption zu verändern. War Goethe ursprünglich noch davon ausgegangen, dass das Theater selbst ein Medium und ein Ziel von Bildung sein kann, dass das Theater als Bildungsanstalt (um einen Titel des jungen Schiller abzuwandeln) betrachtet werden könnte, hat er später eingesehen, dass das Theater selbst nur ein Durchgangsstadium auf dem Bildungsweg seines Helden sein kann. Bildung kann sich nicht im Theater vollenden, sondern nur im tatsächlichen, praktischen und verantwortungsvollen Leben.
Wilhelm Meisters Lehrjahre
erzählt die Geschichte von Wilhelm auf seinem Weg zur Meisterschaft. Die Handwerksmetaphorik muss man dabei durchaus ernst nehmen, weil Handarbeit für Goethe zum Musterfall tätigen Lebens, der
vita activa
, wird. Doch zunächst, und damit setzt der Roman

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