Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
ein, flieht Wilhelm, wie schon Werther, vor den Zwängen eines bürgerlichen Lebens. Gleichzeitig verlässt er seine Geliebte Mariane. Wilhelm lernt eine andere Schauspielerin, Philine, kennen und zieht mit ihrer Schauspieltruppe fort. Er kauft einer Seiltänzertruppe ein seltsam androgynes Mädchen ab, Mignon, deren Lied «Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn» weltberühmt werden wird. Dieser Truppe schließt sich auch ein alter, heute würde man sagen: depressiv wirkender Mann, der Harfner, an. Die Truppe kommt auf ein Schloss, wo sie ein Stück aufführen soll. Dort lernt Wilhelm Jarno kennen, der zu einer wichtigen Ausbilder-Figur für Wilhelm wird. Jarno macht ihn mit Shakespeare und insbesondere mit
Hamlet
bekannt. Nach dem Aufenthalt auf dem Schloss reist man zu Serlo weiter, um den
Hamlet
aufzuführen. Auf dem Weg wird die Truppe überfallen, und bei dieser Gelegenheit erblickt Wilhelm eine Amazone auf dem Pferd – es handelt sich, wie er noch nicht weiß, um Natalie, die späterseine Gefährtin und Frau werden wird. Das Theater Serlos brennt ab, die Theatertruppe löst sich auf, und Wilhelm erhält den Auftrag von der sterbenden Aurelie, der Schwester Serlos, zu ihrem untreuen Geliebten Lothario zu gehen. Damit verlässt Wilhelm die Sphäre des Theaters und kommt nun gänzlich in den Bereich einer geheimnisvollen Turmgesellschaft, deren Mitglieder auch noch vielfach untereinander verbunden sind. Lothario ist eines von vier Geschwistern, die Gräfin auf dem Schloss ein weiteres, ebenso wie Natalie und Friedrich. An dieser Stelle sind im Roman als sechstes Buch die
Bekenntnisse einer schönen Seele
eingeschlossen, bevor dann im siebten und achten Buch die zunächst geheimnisvolle Turmgesellschaft geschildert und auch der Bildungsweg Wilhelms in der Rückschau als solcher offenbart wird.
Der Roman bringt nicht nur eine Fülle von Figuren hervor, sondern entfaltet in seinem Handlungsverlauf auch eine Reihe von Zufällen, die die Handlung und mithin den Lebensweg Wilhelms jeweils in eine andere Richtung lenken. Das ist Programm – und zwar das Programm des Bildungsromans. Bildung ist kein geradliniger Weg, Bildung ist ein Weg voller Zufälle und Hindernisse, deren Zweck allerdings darin besteht, dass sie, nachdem das Bildungsziel erreicht ist, als notwendige Stationen eines Weges re-interpretiert werden können. Bildung ist also auch jener Prozess, in dem sich der Bildungsweg als solcher überhaupt erst enthüllt. Bildung bedeutet demnach, sich über seinen Bildungsweg klar zu werden. Die Turmgesellschaft ist so etwas wie das verkörperte und inkorporierte Bildungsziel Wilhelms. Dass Wilhelm auf seinem Weg schließlich seinen eigenen (mit Mariane gezeugten) Sohn (wieder)findet und seine Vaterschaft positiv annimmt, gehört mit zu seinem Bildungsweg, an dessen Ende die Idee einer praktischen Sozialisation des Individuums Wirklichkeit geworden ist.
54. Ist Bildung männlich? Ja, Bildung ist männlich, und das nicht nur bei Goethe und in der Goethezeit, sondern weit darüber hinaus in einer langen Reihe von Bildungsromanen von
Wilhelm Meisters Lehrjahren
oder schon von Wielands
Agathon
über Gottfried Kellers
Grünem Heinrich
bis hin zu Thomas Manns
Zauberberg
. Das bedeutet, dass im Fokus all dieser in der Literatur behandelten Bildungskonzepte vor allem der junge Mann steht. Man kann daran sehr schön erkennen, wie klassische und romantische Texte dieselbe Geschlechterideologieentwickeln und fortspinnen. Dass es einen Zusammenhang von Klassik und Romantik gibt, lässt sich an dieser Frage eindrücklich demonstrieren, und dieser Zusammenhang besteht in einer grundlegenden anthropologischen Sichtweise, die klassische Autoren wie auch romantische Autoren teilen. Wo romantische Autoren wie zum Beispiel Novalis (1772–1801), der eigentlich Friedrich von Hardenberg hieß, Goethes berühmten Bildungsroman nicht nur nachschreiben, sondern auch überschreiben wollen, ist immer noch dieselbe anthropologische Grundlage bestimmend, und diese drückt sich wiederum vor allem in ganz bestimmten Geschlechterstereotypen aus (siehe Frage 52). Auch der Held aus Novalis’ Roman, den man durchaus gleichermaßen als Bildungsroman bezeichnen kann, nämlich sein
Heinrich von Ofterdingen
(entstanden 1800, 1802 posthum veröffentlicht), ist ein junger Mann, der sich auf die Reise begibt. Diese Reise in die Welt ist immer auch eine Reise zu sich selbst, eine Reise, die nach außen geht und nach innen führt. Ein anderes
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