Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Menschenbild undeine differenzierter entfaltete Geschlechtertypologie sind sie doch. Für die goethezeitliche Geschlechtercharakteristik gehört die Frau der Natur, der Mann aber der Kultur an. Die Stereotypen können ganz schematisch aufgelistet werden: Die Frau ist die Empfangende, der Mann der Gebende, die Frau ist – bestenfalls – die Erhaltende, der Mann der Schöpfer, die Frau ist mit dem (eher irrationalen) Gefühl verbunden, der Mann mit Vernunft, Geist und instrumenteller Rationalität. Doch dass der Mann der Frau deswegen in jeder Hinsicht überlegen ist, das wird mehr und mehr in Frage gestellt. Und insofern kann man sagen, dass mit der Titelheldin immer auch ihre Weiblichkeit die Bühne betritt. Doch die Art und Weise, wie eine Frau und ihre Weiblichkeit von der und durch die Bühne in Dienst genommen wird, kann ein weites Spektrum durchmessen – und das markanteste Beispiel hierfür ist die Beziehung, die man zwischen der Goethe’schen Titelfigur, der Iphigenie, und der Kleist’schen Titelfigur, der Penthesilea, herstellen kann (und wie dies auf geradezu exemplarische Weise der Germanist Walter Müller-Seidel getan hat).
Iphigenie und Penthesilea – zwei Frauenfiguren, die unterschiedlicher nicht sein können. Während die eine sieht, dass ein Konflikt zwischen Männern im Raum liegt, und weiß, dass ein solcher Konflikt gewaltsam ausgetragen wird, bringt sie bewusst ihre Weiblichkeit ins Spiel, um den Barbaren für humanes Handeln empfänglich zu machen. Auf der anderen Seite greift Penthesilea gerade in einen männlichen, militärischen Konflikt ein, was selbst für den Klügsten aller Männer, Odysseus, unverständlich bleiben muss. Er sagt: «Soviel ich weiß, gibt es in der Natur/Kraft bloß und ihren Widerstand, nichts Drittes» (V. 125/126). Penthesilea lässt sich in kein Schema pressen – und sie bleibt daher für die Männer und ihr männliches Verständnis verschlossen.
Penthesilea ist Königin und Oberpriesterin ihres Amazonenvolkes. Dieses Volk ist aus einer traumatischen Vergewaltigungserfahrung heraus geboren worden. Die überlebenden Frauen beschließen, die männliche Aufgabe selbst zu übernehmen und einen Staat zu gründen. Um die traumatischen Erfahrungen zu bannen, gibt es in diesem Staat keine Männer und keine Liebe. Um sich zu reproduzieren, überfallen die Frauen Männer und führen sie zum sogenannten Rosenfest, an dem die Nachkommenschaft gezeugt wird. Ausgeschlossen wird daher die Liebe zwischen Mann und Frau. Über dieses Gesetz ihrer Vorfahren muss nun gerade die Königinachten, und gerade sie ist es, die gegen dieses Gesetz verstößt, indem sie sich in den einen Mann verliebt, von dem sie annimmt, dass gerade er ihr vorherbestimmt sei. Als Achill sie unterwirft, gibt er vor, dass sie ihn unterworfen hätte, weil das zu ihrem Selbstverständnis gehört. Als sie die List durchschaut, will sie erneut mit ihm kämpfen. Und er ist bereit, sich darauf einzulassen und sich ihr nunmehr nochmals zu unterwerfen. Sie kennt den vorgespiegelten Kampf nicht. Daher kämpft sie mit allen Mitteln und unterwirft, tötet und zerreißt Achill. Am Ende sagt sie sich von dem Gesetz der Amazonen los, das ihr die Liebe verboten und sie gerade deswegen in diesen Liebeswahn getrieben hat. So wie Penthesilea sich der binären männlichen Logik widersetzt und sowohl Kriegerin wie Geliebte ist, so hebt sie auch den Unterschied zwischen Liebe und Mord auf: «– So war es ein Versehen. Küsse, Bisse,/Das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt,/Kann schon das eine für das andere greifen.» (V. 2981–83)
Wo also Iphigenie um Ausgleich bemüht ist und in diesem Ausgleich die weibliche Leistung als Grundlage eines humanistischen Ideals verwirklicht, stellt Penthesilea geradezu das Gegenteil dar: Sie treibt die Konfliktpotenziale ins Extrem. Iphigenie will und kann das Negative ins Positive verwandeln, Penthesilea treibt Positives und Negatives ins Extrem. Beide Frauenfiguren sind absolut und als absolute gerade in ihrer Weiblichkeit greifbar.
Eine ähnliche Szene findet sich schon in Schillers klassischem Drama
Maria Stuart
(1800). Neben der Titelfigur gibt es eine zweite zentrale Frauenfigur, Königin Elisabeth, die eigentliche Gegenfigur zur Maria Stuart. Insofern geht es in diesem Drama auch um einen Konflikt zwischen zwei Frauen und den jeweiligen Konzepten, ihre Weiblichkeit zu leben. Elisabeth hadert mit sich und ihrem Leben, das von politischen Intrigen, Rücksichtnahmen,
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