Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
während der Eroberung einer Zitadelle durch russische Truppen. Die Marquise fällt in die Hände russischer Marodeure, die sie vergewaltigen wollen, ein russischer Offizier, ein Graf, rettet sie, vergewaltigt die Ohnmächtige aber nun seinerseits (ausgedrückt im berühmten Gedankenstrich). Er bekommt Gewissensbisse, ahnt wohl, dass er die Marquise geschwängert hat, noch bevor sie sich selbst ihrer Schwangerschaft bewusst geworden ist, und will daher sein Verbrechen wiedergutmachen, indem er sie heiratet. Dazu braucht er schnell ihr Jawort, und obwohl sie gar nicht abgeneigt ist, drängt er auf das Sonderbarste die Familie zu einer schnellen Entscheidung, was diese sehr befremdet: «Alle kamen darin überein, daß sein Betragen sehr sonderbar sei, und daß er Damenherzen durch Anlauf, wie Festungen, zu erobern gewohnt scheine.» Dabei geht es Kleist aber weniger um einen rhetorischen Topos der Gleichsetzung von Liebe und Krieg, sondern vielmehr um ein anthropologisches Problem, das typisch für das Denken seiner Zeit ist.
Wenn man Verrat als eine Form der auch kriegerischen Aggression begreift, so kann man davon ausgehen, dass Kleist mindestens zwei Texte geschrieben hat, in denen die Überlagerung von Liebe und Krieg als Dialektik von Liebe und Verrat entfaltet wird. Der erste Text ist sein Drama
Der zerbrochne Krug
, an dem er während seiner fast gesamten schriftstellerischen Phase von 1802 bis 1810 arbeitet. Hier scheint der Krieg fern zu sein. Die Handlung spielt in den Niederlanden, und Krieg ist weit weg in den Kolonien, in Batavia, und doch durchdringt er das Verhältnis von Eve zu ihrem Verlobten Ruprecht auf ganz intime Art und Weise. Eve hat Angst, dass ihr Ruprecht zu dem brutalen, imperialistischen Kriegsdienst in den Kolonien eingezogen wird, was den sicheren Tod bedeutet. Das jedenfalls lässt der Dorfrichter Adam sie glauben. Weil er – wie er vorgibt – eine Rückstellung bewirken könnte, erpresst er sie und zwingt sie zu einem Schäferstündchen, bei dem ein Krug, der für ihre Jungfräulichkeit steht, zu Bruch geht. Ihre Mutter erhebt Klage vor ebenjenem Dorfrichter Adam, der den Krug selbst zerbrochen hat. Und schon geht es nicht mehr um den Krug, bestenfalls noch in einem übertragenenSinn. Bei diesem Prozess tritt nun immer mehr zutage, dass Eve scheinbar sich mit einem anderen eingelassen hat, was Ruprecht als Treuebruch erscheinen muss und ihn dazu bringt, seine Verlobte wüst als «Metze» zu beschimpfen. Doch in Wahrheit war sie das Gegenteil einer Metze, geradezu eine Heilige, die keusch geblieben ist und ihr Leben eingesetzt hat, um seines zu retten. Doch dies begreift Ruprecht nicht, wie es auch die anderen Männer in Kleists Werk nicht begreifen.
Auch Gustav von der Ried begreift es nicht. Er ist der Held der Erzählung
Die Verlobung von St. Domingo
, die Kleist 1811 veröffentlicht hat. Sie spielt im Krieg und in der Revolution um 1800 auf Haiti, wo der Bürgerkrieg in der Folge der Französischen Revolution abartige Formen angenommen hat. Als Zeitangabe wird gemacht: «als die Schwarzen die Weißen ermordeten». Gustav führt einen versprengten Trupp von Weißen über die Insel. Sie kommen zu dem Anwesen Congo Hoangos, der aber auf Mordzug ist. Die alte Babekan und die junge Mestizin Toni sollen die Weißen aufhalten, bis Congo kommt, um sie umzubringen. Aber Gustav und Toni verlieben sich ineinander und feiern Verlobung in einer Liebesnacht. Diese Geschichte gehört zu den spannendsten Texten der Weltliteratur, es stockt einem der Atem, wenn man liest, was nun passiert. Congo kommt zu früh zurück. Wie kann nun Toni ihren Geliebten retten? Ihr Plan: Sie spielt Congo genau das vor, was zu tun sie angehalten war. Sie fesselt Gustav, sie verrät ihn an Congo, um den Weißen so Luft und Zeit zu verschaffen, sich aus dieser Situation befreien zu können. Doch genau dies begreift Gustav nicht. Er fühlt sich, heiß entbrannt in Liebe zu Toni, auf das Ärgste verraten, seine Liebe schlägt ins Gegenteil um und er erschießt Toni. Als man ihn aufklärt, erschießt er sich selbst.
Dass der Akt des Verrats zugleich der höchste Liebesbeweis sein kann, hat auch Auswirkungen auf die Figuren. Sie spalten sich auf und vereinen extreme Gegensätze in sich. Penthesilea ist Furie und Grazie, Eve ist Metze und treue Verlobte, Toni ist Verräterin und Liebende; und diese Strukturen betreffen genauso die Männer: der Graf ist Engel und Teufel, und selbst Congo Hoango wird als treu und
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