Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Häusern finden kann. Die entscheidenden Worte sind «sprachlos und kalt», Letzteres lässt sich mit «Tod» in Verbindung bringen und die Sprachlosigkeit mit der Unmöglichkeit, dichterisch produktiv zu sein. Damit eröffnet sich eine poetologische Lesart; man kann das Gedicht als Text über die Möglichkeit – oder Unmöglichkeit – des Schreibens lesen. Nun unterliegen aber die Jahreszeiten einem natürlichen Wechsel, und das Ich fragt ja nach einem Ausweg aus dem Unausweichlichen, auch wenn die Frage vielleicht rhetorisch oder gar nicht zu beantworten ist. Nun könnte man dieses Gedicht auch als Antizipation der eigenen Erkrankung lesen, doch genauso kann man dann auch darauf aufmerksam machen, dass selbst der Winter, diese Zeit der Sprachlosigkeit, immerhin sprachlich gebannt wurde im Gedicht.
Die Frage, ob Hölderlin wahnsinnig gewesen ist oder nicht, hat vor allem Psychologen umgetrieben, dann aber auch Literaturwissenschaftler. Es hat sogar Ansätze gegeben, den Zeitpunkt des Wahnsinns nur zu dem einen Zweck festzulegen, um die danach geschriebenen Texte als wahnsinnig aus dem Werk auszugliedern. Der Hölderlin-Forscher Pierre Bertaux hat hingegen die Ansicht vertreten, Hölderlin habe seinen Wahnsinn nur simuliert, um politischer Verfolgung zu entgehen.
Das eigentlich Problematische an diesen Fragen nach dem Wahnsinn ist jedoch, dass man noch immer Hölderlins bemerkenswerte Stellung inmitten der zahlreichen Diskurse jener Zeit übersieht. Denn Hölderlin hat nicht nur in den unterschiedlichsten Gattungen geschrieben, er hat auch übersetzt und sich außerdem sehr für die zeitgenössische Philosophie interessiert und zu ihren Fragen beigetragen. Hölderlin war mit Schelling und Hegel in der gemein samen Zeit als Stipendiaten im Tübinger Stift während des Studiums befreundet. Im Kreise der drei ist wohl auch eines der markantesten Positionspapiere des Deutschen Idealismus im Jahr 1795 entstanden, das erst 1917 veröffentlicht wurde, und zwar unter dem Titel
Das älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus
. Hölderlin hielt sich zuvor auch in Jena auf, er kannte nicht nur die Debatten zwischen Schiller und Goethe (über Erfahrung und Idee), sondern auch Fichtes Konzept einer
Wissenschaftslehre
. Dass Hölderlin sich von Fichte in einem (nur zweiseitigen) Text mit dem Titel
Urteil und Seyn
(veröffentlicht 1961) absetzen konnte, zeigt, wie kompetent er in den grundlegenden Fragen der zeitgenössischen Philosophie, des Idealismus, war. Hölderlins Verständnis von Philosophie und sein Dichtungsverständnis sind eng miteinander verzahnt. Philosophisches und poetologisches Denken gehen bei ihm ineinander über, und Schelling und Hegel haben ihn als Philosophen auf Augenhöhe anerkannt. Ihre grundsätzliche Frage, um sie so einfach wie möglich zu formulieren, lautete, wie man mit Differenzen umgeht, wenn sich zu bestimmten, fundamentalen Differenzen wie zum Beispiel Sein und Denken keine übergeordnete Einheit mehr finden lässt. Hölderlin hat daraus die Idee einer Vereinigungsphilosophie entwickelt, die Ideen einer Universalpoesie, wie sie in der Frühromantik aufkamen, noch radikaler vorwegnahm und die Philosophie und Literatur ununterscheidbar macht.
59. Was ist ein Eheroman? Die Ehe gehört zu den konstantesten Beziehungsmodellen in der menschlichen Kultur. Sie hat eine doppelte Seite: Im Binnenverhältnis ist die Ehe durch Intimität geprägt, im Außenverhältnis tritt das Paar als Paar in die Gesellschaft ein. Kant definiert die Ehe (die Geschlechtsgemeinschaft) in der Rechtslehre der
Metaphysik der Sitten
als «wechselseitigen Gebrauch, den ein Mensch von eines anderen Geschlechtsorganen und Vermögen macht». Und Kleist stellt seiner Verlobten in einem Brief (vom 30.5.1800) folgende Denksportaufgabe: «Gesetzt, Du fragtest mich, welcher von zwei Eheleuten, deren jeder seine Pflichten gegen den andern erfüllt, am meisten bei dem früheren Tode des andern verliert; so würde alles, was in meiner Seele vorgeht, ohngefähr in folgender Ordnung aneinander hangen.» Und gibt ihr die Musterlösung einer Antwort: «[…] daß der Mann nicht bloß der Mann seiner Frau, sondern auch noch ein Bürger des Staates, die Frau hingegen nichts als die Frau ihres Mannes ist; daß der Mann nicht bloß Verpflichtungen gegen die Frau, sondern auch Verpflichtungen gegen sein Vaterland, die Frau hingegen keine anderen Verpflichtungen hat, als Verpflichtungen gegen ihren Mann. […] und daß also das Glück des
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