Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
rechtschaffen einerseits und fürchterlich andererseits charakterisiert, übrigens mit einer Wortwahl, die stark an
Michael Kohlhaas
, die wohl berühmteste Titelfigur Kleists, erinnert: Auch er gilt als «einer der rechtschaffendsten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit».
62. Wie romantisch ist die Romantik? Eine wunderschöne, pittoreske Landschaft, ein Abendessen zu zweit bei Kerzenschein, eine schnulzige Liebesgeschichte – unsere landläufigen Vorstellungen haben nur noch wenig gemein mit einer Epoche der Romantik in Literatur oder auch Kunst. Wenn wir heute etwas als romantisch bezeichnen, so meinen wir damit in erster Linie eine Form von – immerhin positiv bewerteter – Rückwärtsgewandtheit. Wer romantisch ist, ist nicht mehr zeitgemäß, und das empfinden wir als gut. So bezeichnen wir einen Menschen als Romantiker, weil er an hohe Werte glaubt und trotz gegenteiliger Erfahrungen in einer Welt, in der solche Werte offenbar keinen Platz mehr haben, daran festhalten will. Aber was hat das mit der Literatur- und Kunstepoche der Romantik zu tun?
Tatsächlich lassen sich Verbindungslinien finden. So spielte in der Romantik die Landschaft eine große Rolle. Landschaft war eine Form, mit der man Natur erfahren konnte. Wo im zeitgenössischen Kontext der Aufklärung und später dann auch noch der Romantik der Ruf «Zurück zur Natur!» laut wurde, zielt dieser Appell auf eine Kritik an der Artifizialität der Kultur. Wenn man allein nur diesen Bedeutungswandel nachverfolgen will, lohnt sich ein Blick in die Literaturgeschichte mit ihren Texten und den darin entwickelten Vorstellungen von Natur. Dabei wird aber ein Mechanismus deutlich, der auch für den Bedeutungswandel von Romantik maßgeblich ist und der uns erklären kann, wie aus einer der fortschrittlichsten Literaturbewegungen ein Synonym für einen plumpen Konservatismus werden konnte. Wenn man romantische Literatur und Kunst daraufhin befragt, welche Bilder sie literarisch oder malerisch erzeugen, dann kann man erkennen, dass diese Bilder für etwas stehen, was sich hinter den Bildern verbirgt. Ein berühmtes Beispiel sind die Bilder von Caspar David Friedrich von verschwindend kleinen Figuren in einer überwältigenden Natur auf einem Berggipfel oder am Meer. Damit ist eine spezifische ästhetische Erfahrung des Erhabenen gemeint, etwas, was den Menschen übersteigt, was er gar nicht zu fassen in der Lage ist, das man aber immerhin noch ästhetisch in Literatur und Kunst bannen kann. Es geht – kurz gesagt – um die Darstellung des Undarstellbaren, es geht um die Erfahrung von Unendlichkeit mit den endlichen Mitteln, die einem Menschen und seiner beschränkten Wahrnehmung zur Verfügung stehen. Es geht um so etwas wie Transzendenzerfahrung, die Erfahrung von Unendlichkeit unter den Bedingungen von Endlichkeit.
Die Romantik ist entstanden als eine Bewegung junger Autoren, die sich gegen das etablierte Denken und Schreiben wandte. Wie schon die Bewegung des Sturm und Drang, an die eine junge Romantikergeneration (Frühromantik) vielfach erinnerte, wandte man sich gegen die Aufklärung, gegen einen klaren und rigiden Rationalismus. Die Romantik war jung, radikal und progressiv! Aber sie war nicht eine Wiederholung des Sturm und Drang, denn hinter die Errungenschaften der Aufklärung konnte man nicht mehr zurück, es ging vielmehr um eine Überwindung von Aufklärung mit den Mitteln der Aufklärung. Wenn man es auf einen einfachen Begriff bringen will, so könnte man sagen, dass die Frühromantiker transzendentales Denken mit transzendenten Ideen zusammenbrachten. Wie ist das zu verstehen? Der Idealismus wird auch als Transzendentalphilosophie bezeichnet. Damit ist gemeint, dass der Mensch nur mit seinem Erkenntnisapparat die Welt und damit auch seinen Erkenntnisapparat selbst erkennen kann: Denken unter den Gesetzen des Denkens selbst. Transzendentes Denken hingegen meint den Versuch, dasjenige zu denken, was grundsätzlich über die Denkmöglichkeiten hinausgeht (trans-cedere, hinaus-gehen). Damit wird Kunst so etwas wie eine neue Mythologie – und dieses Stichwort war für die Frühromantiker von besonderer Bedeutung. Die neue Mythologie ist die Vorstellung einer Reflexion in und mit Kunst, die an die Grenzen von Reflexion und darüber hinaus führt.
Derjenige, der diese Ideen am prägnantesten entwickelt hat, war sicherlich Friedrich Schlegel (1722–1829). Er war Literat, Philosoph, Literatur- und Kulturtheoretiker – und dass er
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