Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
diese Differenz schlichtweg unsinnig. Und Jupiter merkt, dass ihn ein Wahn zu Alkmene geführt hat, dass all die Liebe, um die er sie betrügt, für sie nur immer ihrem Gemahl gilt.
Erst als der echte Amphitryon zurückkehrt und zwei Amphitryonen auf der Bühne stehen, merkt sie unweigerlich, dass hier etwas nicht stimmen kann, und stürzt daraufhin in eine bedrohliche, existenzielle Krise. Denn die Liebe, die sie schenkt und erfährt, ist der Ausdruck ihres innersten Gefühls. Sie ist regelrecht durch diese Liebe definiert. Aber diese Liebe wird auf eine harte Probe gestellt, weil mit der Identität des geliebten Mannes zugleich ihre eigene Identität in Frage gestellt wird. Nun müsste doch gerade die Liebe, die innigste Beziehung zwischen zwei Menschen, ihre Ich-Identität wechselseitig bestätigen. Doch Alkmene, zu diesem Test aufgerufen, entscheidet sich aus dem bekannten Grund für Jupiter. Erst in dem Moment, in dem Amphitryon bereit ist, seine Identität aufzugeben, was das Äußerste ist, wozu die eigene Ich-Identität das Subjekt ermächtigt, muss der Gott Amphitryons Identität anerkennen. Damit wird klar, Alkmene hat ihren Mann Amphitryon betrogen – und nicht betrogen. Der Ehebruch als Treuebeweis! Sie hat sich in ihrem innersten Gefühl getäuscht – und doch auch wieder nicht, im Gegenteil, gerade dieses innerste Gefühl hat sich auf eindrucksvolle Weise bestätigt. Ausdruck dieses dramatischen Zwiespalts, der sie zu zerreißen droht, ist jenes Ach am Ende des Dramas.
Anders verhält sich mit dem ‹Ach› in E.T.A. Hoffmanns romantischer Erzählung
Der Sandmann
. Zunächst erfahren wir die Vorgeschichte und die derzeitige Situation des Studenten Nathanael, die er in drei Briefen schildert. Er hat offensichtlich ein kindlichesTrauma erlebt, das noch in seiner Gegenwart seine psychische Situation bestimmt. Sein Vater hat alchimistische Versuche mit dem Advokaten Coppelius unternommen, der den kleinen Nathanael mit der Drohung, ihm die Augen zu rauben, nachhaltig verschreckt hat. Als der Vater bei den Versuchen ums Leben kommt, brennt sich Nathanael dieser Schreck ein. Jahre später glaubt er, in dem Wetterglashändler Coppola den Advokaten von damals wiedererkannt zu haben, was ihn abermals in düstere Depressionszustände führt. Diese weitere Geschichte berichtet uns ein Erzähler. Nathanael verliebt sich in Olimpia, obschon sie immer nur ein Wort spricht, nämlich dieses berühmte ‹Ach›. Und dennoch, oder gerade deswegen, fühlt sich Nathanael von ihr verstanden und glaubt, sich bestens mit ihr zu verstehen. Sehr schnell wird klar, dass Olimpia keine richtige, keine lebendige Frau, sondern ein Automat ist. Nur Nathanael verkennt diese Situation und geht so weit, dass er seine Braut, Clara (ihr Name steht für Aufklärung und klaren Verstand), beschimpft: «Du lebloses, verdammtes Automat!», während seine Liebe zu dem leblosen Automaten Olimpia entbrennt.
Was aber bedeutet Olimpias ‹Ach›? Dass sie nur ‹Ach› sagt, kann auf der Oberfläche als Symptom gewertet werden, dass der Mechanismus nicht mehr zulässt. Bei dem liebenden Nathanael kommt dies aber ganz anders an. Für ihn ist dieses ‹Ach› ein Ausdruck einer inneren Tiefe, in der er sich verlieren und in die er sich verlieben kann. In diesem Sinne sind die beiden Texte, von Kleist und von Hoffmann, komplementär. Das ‹Ach› ist in beiden Fällen ein Oberflächenphänomen, das auf eine Tiefe in der weiblichen Psyche verweist, die ein Mann nicht durchmessen kann, weil sie ihm aus intrinsischen Gründen verborgen bleiben muss. Das ‹Ach› ist ein sprachliches Anzeichen für einen Innenraum in der weiblichen Psyche, die die Frau, wie Freud später sagen wird, zu einem dunklen Kontinent macht. Dass wir dies heute aus einer kritischen Perspektive als männliche Projektion durchschauen können, ändert nichts daran, dass diese Vorstellung um 1800 das Menschenbild nachhaltig veränderte. Dabei wird deutlich, dass es solche psychischen Innenräume gibt (Kleist), die aber immer auch in einem Wechselverhältnis mit der männlichen Projektion des Weiblichen auf die Frau stehen (Hoffmann).
61. Gibt es Liebe durch Verrat? Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, sagt ein Sprichwort. Fast scheint es so, als wollte Kleist mit seinen Texten Geschichten erzählen, die die Probe aufs Exempel machen.
Die Marquise von O…
beispielsweise, zum ersten Mal 1808 in Kleists eigener Kunstzeitschrift
Phöbus
in Dresden erschienen, beginnt
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