Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
alle diese Tätigkeiten verband, war Prinzip des romantischen Programms. Sein Literaturverständnis besagt, dass Literatur immer auch Reflexion über diese Literatur sei. Er gab eine Zeitschrift heraus,
Das Athenäum
, in der er diese Ideen in Fragmenten formulierte. Im Fragment Nr. 238 prägt er dafür diesen neuen Begriff: «Es gibt eine Poesie, deren eins und alles das Verhältnis des Idealen und des Realen ist, und die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transzendentalpoesie heißen müsste.» Transzendentalpoesie ist also eine Form von Literatur, die immer zugleich Literatur über Literatur ist, in der Literatur und Literaturtheorie zusammenfallen. Als Literatur ist sie nicht mehr auf Gattungen und Formen, Themen und Sujets festgelegt; sie ist schlechterdings universal. Transzendentalpoesie ist daher immer auch Universalpoesie, die nicht nur Gattungsgrenzenüberwindet, sondern auch Theorie und Philosophie verbindet und letztlich eine Superkunst ist. Im 118.
Athenäums
-Fragment heißt es entsprechend:
Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang.
63. Wie haben die Romantiker den Film erfunden? In der Romantik entwickelt sich die Idee der – wie es der Literaturwissenschaftler Michael Titzmann nennt – optischen Codierung. Relevante Themen werden so in Szene gesetzt, dass es immer auch um Fragen der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, des Sehens und Gesehen-Werdens, des richtigen Sehens und des Sehens des Richtigen geht. Die entscheidenden Probleme werden mit oder an visuellen Phänomenen konkretisiert. Ein wunderbares Beispiel, weil es gleich zwei entscheidende visuelle Metaphern miteinander verbindet, liefert die kurze Novelle
Die Abentheuer einer Sylvester-Nacht
von E. T. A. Hoffmann (1776–1822) aus dem vierten Band seiner
Fantasiestücke in Callot’s Manier
. Der Ich-Erzähler, der reisende Enthusiast, gelangt in einer Berliner Silvesternacht in ein kleines Kellerlokal, in dem sich schließlich noch zwei weitere seltsame Gäste einfinden. Die eine Figur hat keinen Schatten; man kennt sie, sie heißt Schlemihl (in einer dreisten intertextuellen Verwertung lässt Hoffmann die Hauptfigur aus Adelbert von Chamissos Novelle
Peter Schlemihls wundersame Geschichte
aus dem Jahre 1813 wieder auftreten; siehe Frage 64). Die andere Figur, Erasmus Spikher, will, dass man den Spiegel verhängt, und bekommt vor der silbernen Tabakdose des Erzählers panische Angst, denn er hat kein Spiegelbild mehr. Durch einen Zufall müssen der Erzählerund Spikher die Nacht in einem Zimmer verbringen. Spikher nutzt die Zeit, um seine Geschichte aufzuschreiben, und verschwindet. Am Morgen danach kann der Ich-Erzähler diese Geschichte des Erasmus Spikher in einem zurückgelassenen Manuskript nachlesen.
Als 100 Jahre nach dieser Novelle die ersten Spielfilme professionell gedreht werden, greift ein Drehbuchautor, der Schriftsteller Hans Heinz Ewers (1871–1943), genau auf jenen visuellen Motivfundus zurück und verbindet den Spiegelbild- und den Schatten-Topos, als er das Drehbuch zu einem der ersten berühmten und Epoche machenden deutschen Spielfilme –
Der Student von Prag
aus dem Jahr 1913 – schreibt. In diesem Film verkauft der Student Balduin sein Spiegelbild. Am Ende erschießt Balduin sein Spiegelbild und damit sich selbst.
Schatten oder Spiegelbild sind Metaphern einer solch prekären Doppelung des Subjekts, das in ein reflektierendes und ein reflektiertes zerfällt. Denn das Auge sieht alles, nur sein eigenes Sehen nicht. Aber wie kann das wiederum sichtbar gemacht werden? Die Antwort darauf liefert die romantische Literatur mit ihren optischen Codierungen, also mit der Übersetzung in visuelle Metaphern. Als nun 100 Jahre später der Film erfunden wird, sind die
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