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Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur

Titel: Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Jahraus
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bestraft wird. In dieser Funktionalisierung bleibt allerdings die emotionale und die erotische Dimension der Ehe auf der Strecke.
    Ein schönes Beispiel hierfür liefert Fontanes Roman. Eine echte Liebesbeziehung hätte es wohl in der Generation vor Effi geben können, denn ihre Mutter und ihr Bräutigam waren seinerzeit verliebt, doch vor allem die Mutter hat auf dieses Liebesglück verzichtet, um sozial zu reüssieren. Den gesellschaftlichen Aufstieg konnte ihr der junge Innstetten nicht bieten. Nun ist er aufgestiegen und kommt als Ehemann für die sehr junge Tochter in Frage. In der Ehe ihrer Tochter holt die Mutter ihr ehemaliges Liebesglück nach, doch das Glück lässt sich nicht wiederholen, im Gegenteil. Aufgrund des großenAltersunterschiedes wird Innstetten zum Erzieher seiner Frau, nicht zu ihrem erotischen und geliebten Partner. Das dadurch entstehende emotionale Defizit in dieser Ehe erweist sich als eine Hypothek. Effi, ohne den Ehebruch zu suchen, schlittert in die Affäre mit Crampas, der als Verführer schlau genug ist, genau diese Defizite auszumachen und Effi für sich zu gewinnen. Dramatischer verhält es sich bei Flaubert und Tolstoi, wo die Frauen aus Ehen ausbrechen, die sie als Gefängnis empfinden müssen, weil sie ihre Lebenswünsche und Sehnsüchte zu stark einschränken. Die Männer, das kann man an diesen Romanen sehr schön erkennen, werden durch die gesellschaftliche, insbesondere berufliche Indienstnahme als erotische Partner für die Frauen unattraktiv. Die (Ehe-)Männer werden langweilig, in ihnen verkörpert sich das soziale Gefängnis, das die Frauen empfinden müssen. So kommt es zum Ehebruch.

Jahrhundertwende: Naturalismus und neue Strömungen

76. Wie naturalistisch ist der Naturalismus? Wie romantisch ist der Naturalismus? Man könnte annehmen, der Naturalismus, der sich als literarische Strömung um 1890 im deutschsprachigen Bereich herausbildet, sei lediglich eine Zuspitzung oder Radikalisierung des Realismus. Doch der Naturalismus kappt das poetische Prinzip, und es ist Arno Holz (1863–1929), der ihm die programmatische Grundlage verschafft. In seinem Buch
Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze
ging es ihm darum, das mimetische Verhältnis von Kunst und Welt auf eine neue Grundlage zu stellen. Berühmt wurde seine Formel «Kunst = Natur – x». x meint dabei die Differenz zwischen Natur und Kunst, und genau damit wird jener Bereich bezeichnet, der im Realismus noch poetisch aufgeladen war. Dass Holz dies in einer mathematischen Formel ausdrückt, ist selbst wiederum bezeichnend, denn es geht darum, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und die Kunst als Gesetzmäßigkeit zu definieren. Die künstlerische Darstellung darf dabei die Gesetzmäßigkeiten des Dargestellten nicht verdecken, sondern muss sie vielmehr direkt abbilden. Das impliziert aber eine gewisse Weltsicht, die wiederum diese Definition der Kunst bedingt. Tatsächlich gehen die Naturalisten davon aus, dass die Welt, gefasst als Natur, aber auch der Mensch von Gesetzmäßigkeiten beherrscht und geradezu determiniert werden. Natur ist nichts anderes als das Produkt von Gesetzmäßigkeiten, und das ist eine Sichtweise, die aus den neuen Ansätzen aus der Natur- und Sozialwissenschaft, zum Beispiel von Charles Darwin, Auguste Comte oder Hippolyte Taine, übernommen wird. Der Mensch wird durch das Ererbte, durch das Erlernte und schließlich durch das Milieu determiniert, in das er hineingeboren wurde. Das hat abermals Gerhart Hauptmann (1862–1946) mit seinem Drama
Vor Sonnenaufgang
(uraufgeführt 1889), das dem Naturalismus auf der Bühne den Durchbruch brachte, drastisch vor Augen geführt. Hier geht es um vererbbaren Alkoholismus als die die Gesellschaft zerstörende Kraft.
    Um 1900 entwickelt sich aber eine Reihe von Strömungen gleichzeitig und nebeneinander, manchmal unabhängig voneinander, manchmal in Konkurrenz, und manchmal gehen sie auseinander hervor. Daher lohnt sich ein Blick noch auf ein anderes Drama von Gerhart Hauptmann, an dem dies exemplarisch an einem einzigenText abgelesen werden kann. Es ist sein Drama
Und Pippa tanzt
, das 1906 uraufgeführt wurde. Dieses Drama schildert eine winterliche Situation in Schlesien. In einer Spelunke sitzen Arbeiter und der Direktor einer nahen Glashütte zusammen. In diese Runde ist auch der Italiener Tagliazoni mit seiner Tochter Pippa gekommen, die für die anwesenden Männer tanzt und ihr Begehren weckt. Ein junger Mann, Michel Hellriegel, verliebt sich in

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