Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
lohnt sich ein Bick auf zwei andere Situationen. Zum einen gibt es in der Nähe des Internats die Prostituierte Bozena, die natürlich für die jungen Kadetten eine Attraktion darstellt. Auch Törleß begleitet seine Kameraden, obschon es ihm weniger um das sexuelle Abenteuer oder auch nur um den Reiz des Anrüchigen geht, sondern um eine Erfahrung, die ihn aus seinem bisherigen Erfahrungsbereich herausführt. Ganz anders scheint ein mathematisch-philosophisches Interesse von Törleß gelagert zu sein, nämlich das an den imaginären Zahlen. Doch auch hier geht es ihm um die Frage, wie er diese unvorstellbaren Größen begreifen könnte. Es geht also um die Frage, und das verbindet Prostitution und Mathematik, wie man dasjenige, was sich der Erfahrung entzieht, dennoch erfahren kann.
78. Warum hat Sigmund Freud Angst vor seinem Doppelgänger Arthur Schnitzler? Sigmund Freud (1856–1939) schreibt am 14. Mai 1922 einen Brief an Arthur Schnitzler (1862–1931) zu dessen 60. Geburtstag und macht dabei ein erstaunliches Geständnis:
Ich will Ihnen … ein Geständnis ablegen, welches Sie gütigst aus Rücksicht für mich für sich behalten und mit keinem Freunde oder Fremden teilen wollen. […] Ich meine, ich habe Sie gemieden aus einer Art von Doppelgängerscheu. Nicht etwa, daß ich sonst leicht geneigt wäre, mich mit einem anderen zu identifizieren oder daß ich mich über die Differenz der Begabung hinwegsetzen wollte, die mich von Ihnen trennt, sondern ich habe immer wieder, wenn ich mich in Ihre schönen Schöpfungen vertiefe, hinter deren poetischem Schein die nämlichen Voraussetzungen, Interessen und Ergebnisse zu finden geglaubt, die mir als die eigenen bekannt waren.
Freud macht Schnitzler ein Kompliment und hält ihn doch gleichzeitig auf Distanz. Dass er Schnitzler als Doppelgänger bezeichnet, macht aus den beiden Männern Analytiker, der eine – nach seinem eigenen Anspruch – mit wissenschaftlichen, der andere mit literarischen Mitteln. Indirekt ist damit auch ein zusätzlicher Legitimationsgrund gegeben, warum Freud der Literaturanalyse seinerseits eine solch große Bedeutung für die Psychoanalyse zugemessen hat, was sich in einer Reihe von literatur-, kunst- und kulturtheoretischen Arbeiten schon niedergeschlagen hat.
Wenn man allerdings diesen Hintergrund mit in Rechnung stellt, bekommt dieses Geständnis noch eine zusätzliche Dimension. Denn Freud hatte sich schon mit dem literarischen Motiv des Doppelgängers auseinandergesetzt, und seine Überlegungen können als Folie für diesen Brief dienen, der sich dann auch als Beispiel einer Verhältnisbestimmung von Literatur und Psychoanalyse lesen lässt. Vor allem in seinem Aufsatz zum
Unheimlichen
aus dem Jahr 1919 setzt er sich mit einer psychoanalytischen Bestimmung des literarischen Unheimlichen auseinander. Das Unheimliche besteht darin, dass es mit dem Heimlichen, also mit seinem Gegenteil zusammenfällt. Freud greift dabei auf ein ganzes Arsenal romantischer Figuren und Topoi wie «Wachsfiguren, kunstvolle […] Puppen und Automaten» oder natürlich auch das «Doppelgängertum» zurück. Er bezieht sich dabei auf zwei markante Texte von E.T.A. Hoffmann:
Der Sandmann
(1815) und auf den großen Schauerroman
Die Elixiere des Teufels
(1815/16). Gerade durch diesen Roman zieht sich das Motiv des Doppelgängers und entfaltet seine volle Unheimlichkeit. Denn der Doppelgänger ist die Negation der Identität des Subjekts. Der Doppelgänger ist gefährlich und ein Mörder, während das Ich harmlos oder ängstlich ist. Mit dem Doppelgänger begegnet das Ich dem Anderen seines Ichs, und deswegen sind diese Selbstbegegnungen immer auch Selbstinfragestellungen.
Schnitzler arbeitet in seinen Texten zudem immer wieder verborgene Triebstrukturen heraus, die zu einem modernen, psychisch fundierten Doppelgängertum führen. Dieses Doppelgängertum wird beispielsweise an der Doppelmoral deutlich, mit denen sich eine ganze Reihe von Autoren im Wien und im Österreich der Jahrhundertwende auseinandersetzt. Denn um Doppelung geht es in beiden Fällen: Auch die Doppelmoral führt zu einer Doppelung der Figur, die einerseits an der gesellschaftlichen Oberfläche normkonform handelt, die aber im Verborgenen jenen Trieben nachgeht, die sozial nicht sichtbar werden dürfen. Schnitzler hat diesen Konflikt immer wieder ausgearbeitet und meistens mit einem tragischen, schlechten Ausgang dargestellt. In einem seiner berühmtesten Texte, der
Traumnovelle
, den er
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