Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
schon von 1906 an konzipiert hat, der aber erst 1925 veröffentlicht wird, hat er diese Problematik auf die Ehe bezogen, aber der Geschichte einen positiven Ausgang gegeben. Durch Zufall kommt ein Wiener Arzt zu einer nächtlichen Geheimgesellschaft, in der alle Mitglieder ihre geheimen Lüste ausleben. Am Endegelingt es beiden Ehepartnern, sich mit Hilfe sexueller Phantasmagorien wieder über die Grundlagen ihrer Ehe zu verständigen, aus den Träumen ins Wache zurückzukehren und ihre Ehe zu retten. Stanley Kubrick hat diese Novelle unter dem grandiosen Titel
Eyes Wide Shut
verfilmt und die Geschichte ins New York des Jahres 1999 verlegt.
Das Doppelgängertum ist das Anzeichen einer Doppelbödigkeit, eines Zweiebenenmodells von Oberfläche und Tiefe, das immer dort in modernen Gesellschaften in Funktion tritt, wo psychische und soziale Dimension auseinandertreten. Selbst Freuds zweifelhaftes Lob des Doppelgängers, seine geheime Doppelgängerscheu vor Schnitzler hat etwas Doppelgängerhaftes. Denn in Schnitzler begegnet er sich selbst und zugleich dem Anderen seiner selbst. Das kann für Schnitzler vice versa gelten. Und dabei wird auch deutlich, dass ebenso Literatur und Psychoanalyse Doppelgänger sind.
79. Ist Misogynie emanzipatorisch? Das war eine Premiere in doppelter Hinsicht: Am 25.2.1898 betrat Frank Wedekind (1864–1918) als Dramatiker und als Schauspieler die Bühne, als Autor des Stückes
Erdgeist
und als Darsteller der Figur des Dr. Schön. Er arbeitete schon länger an diesem Stück, vermutlich seit 1892; es sollte ursprünglich
Die Büchse der Pandora
heißen und wurde in einer handschriftlichen Fassung aus dem Jahr 1894 auch als «Monstertragödie» mit dem Zusatz «Buchdrama» bezeichnet, doch dann hat Wedekind das Drama geteilt und aus den beiden Teilen zwei eigenständige Dramen gemacht, indem er zu beiden Teilen jeweils einen neuen Akt schrieb. Der erste Teil bekam den Namen
Erdgeist
, der schon 1895 veröffentlicht wurde, der zweite Teil behielt den ursprünglichen Gesamtnamen
Die Büchse der Pandora
. Diese Teilung hatte dramaturgische Gründe. Zunächst einmal sollte die «Monstertragödie» spielbar gemacht werden. Zudem konnte in beiden Teilen jeweils ein spezifischer Spannungsbogen umgesetzt und eine ganz spezifische Thematik verhandelt werden. Daraus kann man erkennen, was für heutige Leser oder Theaterbesucher nicht mehr so leicht einsehbar ist, nämlich dass dieses Stück zu seiner Zeit revolutionär, avantgardistisch und provokant war. Das betrifft hier vor allem das Verhältnis von bürgerlicher Moral und sexueller Triebstruktur, aber es betrifft auch die Vorstellungen von Mann und Frau, die man sich zu jener Zeit nicht nur vor dem Hintergrund der Freud’schen Psychoanalyse, sondernauch einer beginnenden Sexualwissenschaft gemacht hat. Und nicht zuletzt ist es die Auseinandersetzung mit einem Frauentypus, der dieses Drama so provokant macht: nämlich das Phantasma der
femme fatale
. Wedekind hat dann übrigens diese beiden Teile seines Doppeldramas zusammengefasst und nach seiner Hauptfigur
Lulu
benannt und daraus noch später, um 1913, wieder ein einziges, fünfaktiges Drama, abermals unter Titel
Lulu
, gemacht – also sich ganz und gar auf diesen Typus konzentriert, der dann ja auch als Typus in die Kulturgeschichte der Geschlechterdarstellungen eingegangen ist.
Der erste Teil des Dramas zeigt dem Zuschauer Lulu als
femme fatale
par excellence, in dieser Verbindung von Keuschheit und Kindlichkeit einerseits und einer im wahrsten Sinne des Wortes mörderischen Verführungskraft andererseits. Der erste Teil des Dramas erzählt die Geschichte des Verhältnisses von Dr. Schön und Lulu. Dr. Schön hat Lulu gerettet, doch er will sie auf Distanz halten, um eine bürgerliche Ehe einzugehen, die er nicht von Lulu gefährdet sehen will. Daher verheiratet er sie an den Medizinalrat Dr. Goll. Als dieser sie malen lässt, verführt sie den Maler Schwarz, woraufhin Dr. Goll einen tödlichen Herzanfall erleidet. Als Dr. Schön im nächsten Akt dem Maler von Lulus Vergangenheit berichtet und davon, wie wenig sich Lulu männlich sozialisieren und domestizieren lässt, bringt er sich um, indem er sich die Kehle durchschneidet. Der Versuch von Dr. Schön, Lulu auf Distanz zu halten, hat sie ihm gefährlich nahegebracht. Als Dr. Schön Lulu den Suizid befiehlt, kann sie ihm nicht gehorchen und bringt letztlich ihn dazu, sich umzubringen. – Im zweiten Drama haben sich die gewaltsamen
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