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Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur

Titel: Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Jahraus
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Tyrann erscheint, ist auf der Erzähl ebene die Willkür, der epische Gestaltungsspielraum des Erzählers. Insofern dreht sich das Identifikationsangebot um. Nicht nur kann sich Cangrande (aus dem Rahmen) mit zwei Binnenfiguren identifizieren, mit der Binnenfigur des Ezzelin können sich wiederum zwei Rahmenfiguren identifizieren, neben Cangrande eben auch der Erzähler Dante. Identifikationsmoment für Cangrande ist politische, für Dante erzählerischeMacht. Was Meyer hier auf sehr kunstvolle Weise regelrecht inszeniert, ist die Macht des Erzählers im Realismus.
    74. Warum ist Gideon besser als Botho? Theodor Fontanes (1819–1898) kleiner Roman
Irrungen, Wirrungen
, als Buch erschienen 1888, vereint Gegensätzliches: Da ist auf der einen Seite die wunderschöne und auch traurige Liebesgeschichte zwischen dem Baron Botho von Rienäcker und der proletarisch-kleinbürgerlichen Näherin Lene Nimptsch, die auch ein Hauch von Erotik durchweht. Deswegen wurde der Text scharf kritisiert, und selbst der Herausgeber der
Vossischen Zeitung
, die den Roman 1887 als Fortsetzungsroman brachte, soll die Redaktion gefragt haben: «Wird denn die gräßliche Hurengeschichte nicht bald aufhören?» Auf der anderen Seite ist dieser Text in geradezu brutaler Form realistisch, weil er gesellschaftliche Prozesse vorführt, die selbst die intimsten Verhältnisse der Menschen bestimmen. Die trennenden Standesunterschiede, die zwar in der Bismarck’schen Ära und dann in der Wilhelminischen Gesellschaft noch eine bedeutende Rolle spielen, sind nur vorgeschoben. Die Beziehung zwischen Botho von Rienäcker und Lene Nimptsch scheitert nämlich nicht mehr an den Standesgrenzen, sondern an ökonomischen und kapitalistischen Dispositionen. Denn die Familie von Botho von Rienäcker ist in finanziellen Schwierigkeiten, und besonders er, der er als Offizier über seine Verhältnisse lebt, ist pleite. Botho wird also erfolgreich von seiner Familie und von seiner Mutter erpresst und so heiratet er am Ende seine Cousine Käthe von Sellentin, die das nötige Kleingeld in die Ehe bringt, damit Botho sein Offiziersleben wie bisher weiter leben und vor allem finanzieren kann. Aus der Zeitung entnimmt er dann die folgende Meldung, was zu einem kleinen Dialog mit seiner unwissenden Frau führt – und damit endet der Roman:
    ‹Ihre heute vollzogene eheliche Verbindung zeigen ergebenst an:
Gideon Franke
, Fabrikmeister,
Magdalene Franke,
geb.
Nimptsch
› … Nimptsch. Kannst du dir was Komischeres denken? Und dann Gideon!«
Botho nahm das Blatt, aber freilich nur, weil er seine Verlegenheit dahinter verbergen wollte. Dann gab er es ihr zurück und sagte mit so viel Leichtigkeit im Ton, als er aufbringen konnte: «Was hast du nur gegen Gideon, Käthe? Gideon ist besser als Botho».
    Immerhin bietet Gideon Lene eine bürgerliche Ehe. Die Liebe bleibt auf der Strecke, aber das wird nicht mehr ausgesprochen. So ist der Realismus.
    75. Warum ist die Ehe eine paradoxe Institution? An der Ehe werden im 19. Jahrhundert die Prinzipien und die Paradoxien der bürgerlichen Gesellschaft abgehandelt. Ein schönes Beispiel dafür ist die Tatsache, dass in drei großen europäischen Literaturen drei große Eheromane entstehen, die bis heute nichts von ihrem Zauber verloren haben. Da ist zunächst von Gustave Flaubert
Madame Bovary. Ein Sittenbild aus der Provinz
aus dem Jahr 1857, sodann von Leo Tolstoi
Anna Karenina
aus den Jahren 1873 bis 1878 und schließlich von Theodor Fontane
Effi Briest
aus dem Jahr 1895. Dass es Fontane ist, der so spät seinen Roman schreibt, mag man auf die verspätete gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland zurückführen, das erst 1871 zu einem Nationalstaat zusammengefasst wurde. Interessanterweise sind alle drei Romane nicht nur Eheromane, sondern auch Ehebruchsromane und schließlich auch Romane gescheiterter Ehen sowie gebrochener und zerbrochener Frauen.
    Gerade angesichts dramatischer sozioökonomischer Rahmenbedingungen wird der Ehe eine umso wichtigere soziale Funktion zugesprochen: Sie stabilisiert die Gesellschaft in dynamischen Prozessen und gibt ihr eine Struktur. Dabei verbinden sich archaische Vorstellungen zum Beispiel von der jungfräulichen Braut mit ganz konkreten Instrumentalisierungen, beispielsweise dort, wo es um die Erziehung von Kindern oder das Erbrecht geht. Die eheliche Treue ist damit zu einem gesellschaftspolitischen Faktor geworden, der sogar eherechtlich sanktioniert wird, wo Ehebruch direkt oder indirekt

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